Eigentlich hätte ich mir den Wecker stellen müssen. Normalerweise lasse ich mir kaum einen wichtigen Marathonlauf entgehen. Und um 5:45 Uhr an diesem Samstag startete ein besonders wichtiger. Das akribisch vorbereitete „Breaking2“ Projekt von Nike brachte Eliud Kipchoge (PB zuvor 2:03:05), Zersenay Tadese (Weltkrekordhalter im Halbmarathon mit 58:23) und Lelisa Desisa (2:04:45) auf die Strecke. Auf der Formel 1-Rennstrecke in Monza sollte das Vorhaben glücken, dass der erste Mensch einen Marathon in unter 2 Stunden absolviert.
Ausgerechnet Nike.
Wie wir inzwischen alle wissen, ist der Versuch knapp gescheitert. Das Experiment, bei dem nichts dem Zufall überlassen wurde, hat dennoch gleich zwei Sieger hervorgebracht: Eliud Kipchoge, der ein beinahe überirdisches Rennen lief und seine Bestzeit mit 2:00:25 deutlich nach unten verschob und Nike, der ausrichtende Sportartikelhersteller, dessen Logo an diesem Wochenende netzhautverätzend häufig zu zu sehen war. 30 Millionen Euro soll das Ereignis das Unternehmen gekostet haben, eine Summe, die man getrost als nützliche Werbeausgaben verbuchen kann.
Etwas PR kann derzeit auch nicht schaden, machte Nike doch in Sachen „Oregon Projekt“, der Trainingsgruppe um den umstrittenen Coach Alberto Salazaar, keine besonders coole Figur. Als Vorkämpfer gegen Doping kann man Nike wohl eher nicht ansehen. Es ist im Gegenteil von Behinderung der Ermittlungen der Usada die Rede.
Aber ist das Grund genug, ein solches Experiment nicht mit leuchtenden Augen zu verfolgen? Schließlich ist Eliud Kipchoge ein besonders großartiger Läufer unter den großartigen. Wunderbar elegant, ausgestattet mit Nerven aus Stahl, attraktiv, sympathisch und von großer Ausstrahlung. Es ist eine Freude, ihm zu zusehen. Muss ich als Fan des Laufens die Gleichung Höchstleistung = Doping wirklich als gesetzt annehmen? Darf ich nicht mehr Fan sein? Und wo liegt der Unterschied zwischen einem Lauf unter Laborbedingungen und einem gewöhnlichen Marathon?
Kommerz in guter Tradition.
Wer jetzt die zunehmende „Kommerzialisierung“ und das „Unnatürliche“ dieses Wettlaufs gegen die Zeit kritisiert, könnte sich vergegenwärtigen, dass beides eine lange Tradition hat. In seinem kuriosen und spannenden Buch „Läufer und Vorläufer“ skizziert Stephan Oettermann in einer „Kulturgeschichte des Laufsports“ den Weg vom laufenden Boten über die herrschaftlichen Läufer und Jahrmarktsläufer und Kunstläufer bis hin zum Sportler. Mag auch der Sinn und Zweck des Laufens jeweils ein anderer gewesen sein – im Kern geht es immer darum, dass Menschen, die das Talent dazu besaßen, ihren Broterwerb mit dem Laufen bestritten. Ehrgeizige Vorhaben und öffentlichkeitswirksame Spektakel wie „Mann gegen Pferd“ gehörten dazu. Nutznießer waren häufig andere als die Läufer selbst.
Die hehre Reinform des Laufens bei sportlichen Ereignissen aus reiner Leidenschaft ist etwas, was sich Breitensportler leisten können. Für Läufer, bei denen es um Berufung und Beruf geht, ist das etwas anderes. Immer wieder stelle ich fest, dass dem wirtschaftlich erfolgreichen Läufer Argwohn entgegen gebracht wird. Während sich Fußballspieler für aberwitzige Summen anheuern lassen dürfen und ihre Manager so viele Werbeverträge abheften müssen, dass sie kaum noch geradeaus gucken können, soll der Läufer am besten nur für Medaillen laufen, die er sich hernach in die Toilette hängt. Der Ruhm muss reichen.
Für Läufer wie Kipchoge ist es ein Glück, herausfinden zu dürfen, ob ein Marathon unter 2 Stunden für ihn tatsächlich möglich ist und dafür perfekte Bedingungen vorzufinden. Die Wahrscheinlichkeit, dass es bei einem gewöhnlichen Marathon glückt, ist nicht sehr hoch. Es wäre unsportlich, den drei Läufern, die am Samstag angetreten sind, das Unmögliche zu versuchen, ihre große Chance nicht zu gönnen. Natürlich sind es Laborbedingungen, warum auch nicht? Es ist ein Experiment, das viele Läufer inspiriert.
Und wo ist jetzt das Bittere im Süßen?
Und dennoch. Ich habe mir den Wecker nicht gestellt, nur die letzten Minuten des Rennens live gesehen. Warum nicht? An der Versuchsanordnung allein liegt es nicht, an den Läufern schon gar nicht. Es ist zum einen die Reduktion des Laufens auf die Endzeit, die mich nervös macht. Ginge es beim Marathonlaufen nur um die Zeit, dürften Läufe wie der New York City Marathon gar nicht stattfinden. Genau genommen müssten Marathonläufe auf der Bahn statt finden. Ohne Straßenbahnschienen, unwegsame Kurven, Brücken und Hügel. Aber das ist eben das, was das Marathonlaufen von allen anderen Läufen unterscheidet. Etwas, was das Identifikationspotential mit dem Breitensportler so hoch macht. Es wird in freier Wildbahn gelaufen und die Strecke ist nie perfekt. Nicht einmal Berlin.
Nun mag man sagen, für einen Afrikanischen Läufer geht es von Anfang an um nichts anderes als die Zeit. Wenn tausende Läufer ein ähnliches Talent haben wie man selbst, geht es um Sekunden. Die entscheiden, ob du die Chance bekommst, für dich und deine Familie eine Existenz aufzubauen. Genau das ist es, was Doping am Ende nicht nur attraktiv, sondern unerlässlich erscheinen lässt. Deshalb ist mein Verhältnis zur ultimativen Bestzeit ein gespaltenes. Die Rekordjagd produziert strahlende Sieger und ein großes Heer Namenloser, deren sehr gute Zeit angesichts einer glänzenden keinen Pfifferling mehr wert ist. Läufer, die mit Substanzen, die sie nicht kennen, ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Und Läufer, die den Erfolg und Ruhm mit ihrem Leben bezahlen, wie Sammy Wanjiru.
Ich habe Sorge, dass Sponsoren aus dem Blickfeld verlieren, was den Marathonsport so ungeheuer spannend macht. Das nicht Berechenbare, Magische. Einer meiner großen Helden ist Hendrick Ramaala. Der gerne unorthodoxe Tempoverschärfungen einbaute und plötzlich wieder zurückfiel. Und der 2005 in New York für ein großartiges Finish sorgte, als er den Schlusssprint gegen gegen Paul Tergat denkbar knapp verlor. Was für ein Lauf war das, in 2:09!
Und überhaupt, Paul Tergat! 2003 in Berlin! Ja, eine Rekordjagd war das auch – aber wer konnte damit rechnen, dass mit Sammy Korir ein Pacemaker mit um den Sieg kämpfte? Ohne Korir, der viele Kilometer an Tergats Seite lief, wäre so eine Zeit nicht möglich gewesen.
Oder wie war das, als Dire Tune in Boston beinahe falsch lief und sich mit ihrer russischen Konkurrentin ein Sprint-Finish lieferte? Wen interessiert die Zeit von 2:25:24?
Läufer, die sich von hinten nach vorn kämpfen, oder kurz vor dem Ziel aussteigen oder einbrechen, Außenseiter, die niemand auf der Liste hatte, oder Läufer wie Abderrahim Goumri (der 2013 bei einem Autounfall ums Leben kam), der bei vier großen Marathons hintereinander immer „nur“ zweiter wurde. Das ist Marathon. Und Werbung für den Laufsport. Und Werbung für den Laufsport ist Werbung für Laufsportartikel-Hersteller. Ob man das bei Nike weiß?
Titelbild © Stanislav – unsplash.com
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3 Kommentare
Liebe Heidi,schön, mal wieder etwas von dir zu lesen. Mir ging es so ähnlich wie dir. Ich war auch hin- und hergerissen und so habe ich auch nur die letzten Minuten des Laufs wahrgenommen.Ähnliches gilt ja auch für den Wings for Life Run, der ja ebenfalls an diesem Wochenende über die Bühne ging.Die frage ist natürlich, wird sich jetzt jemand eine Dose Red Bull mehr kaufen oder nur noch in Nike-Schuhen durch die Gegend rennen.Erinnern wird man sich m.E. aber nur an die tatsächlich vollbrachten Leistungen der Sportler. Ein Marathon bleibt ein Marathon und die Leistung von Eliud Kipchoge ist ebenso episch wie legendär, selbst wenn es kein offizieller Weltrekord war. Genauso dass man in einem handelsüblichen Rollstuhl alle Profi-Läufer, die selbst schon grandiose Kilometerleistungen vollbracht haben, schlagen kann.Es erinnert mich immer auch an meine eigene Motivation und warum ich so gerne Marathon laufe. Diese gnadenlose Ehrlichkeit und die maximalen Herausforderungen, bis an oder sogar über seine eigenen Grenzen zu gehen.
Pingback: Sport- und Fitnessblogs am Sonntag, 14. Mai 2017
Hallo Heidi, schön, wieder von dir zu lesen!!! habe in letzter Zeit gar nicht mehr reingeschaut, pardon ;o)ja ich war erstmal dagegen, eben wegen der „Laborbedingungen“ … ok, den Wind kann man mal nicht beeinflussen, wenn es den gegeben hätte.Aber es stimmt schon, dass es eben auch ein Experiment sein sollte, was kann der Körper leisten – zur Zeit schaue ich zumindest die letzten km von der Tour de France, und da will man auch nicht wirklich wissen, was da alles eingeworfen wird, um im vorderen Feld (und da möglichst ganz vorn) mitspielen zu können. Aber schön sind doch immer wieder die Gegenden, durch die die Tour führt, immer anders, flach oder steil, mal Regen, mal 35 Grad … eben keine Laborbedingungen … die langen Distanzen, Schwimmen/Rad/Laufen sind in erster Linie kein Sport, den man unter Laborbedingungen durchführen kann … und an der Stelle bin ich sehr sehr froh, ein Normalo in Sachen Laufen zu sein, irgendwo im Mittelfeld rumzuwuseln, mich über die ein oder andere eigene Bestzeit zu freuen (für die ich mich im Vorfeld auch ordentlich anstrengen darf, ein Marathon fällt mir zumindest nicht gerade in den Schoß), und meine Brötchen mit anderen Sachen zu verdienen und nicht vor der Frage zu stehen, wie ich die Nummer 1 werde …Aber ich sehe Marathons grundsätzlich gerne, ob an der Strecke oder im TV, die ganze Ästhetik der Körper, mit fliegenden Schritten kilometerlang über die Wege zu schweben scheinen (live bei km 10 vom Berlin Marathon vor ein paar Jahren Haile an mit vorbeiflitzen zu sehen war irre, dieses Tempo, diese Leichtigkeit, dieses Farbenspiel der bunten Shirts …!!!), den Kampf zum Ende, wenn die Körner langsam ausgehen, die letzten Reserven, die rausgeholt werden, wenn es zum Zieleinlauf geht – wunderbar. Ja da ziehe ich auch gern meine Laufschuhe an … danke wie immer sehr für deine Zeilen, wünsche dir einen tollen Sommer mit geschmeidigen Füßen für schöne Läufe …c