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Von Marschtabellen, Moderatoren und Böllerschützen.

Do, Okt 13, 2005

Marathon, München

Von Marschtabellen, Moderatoren und Böllerschützen.

Der Medien Marathon in München (2005)

Wer beim 6. Medien Marathon in München antritt, muss auf eines verzichten: die Medien. Während Herbert Steffny sonst beinahe jeden großen Marathon in Deutschland mit unerschütterlicher Begeisterung zu kommentieren versucht, während ihm wechselnde Moderatoren dabei das Wort abschneiden, schweigen die TV-Medien beim München Marathon ganz.

Ich will aber mal nicht so sein und starte trotzdem in München. Kurz nach dem Start, weiß ich auch warum. Für den Startschuss sorgt nämlich die Böllerschützenkompanie Feldmoching e.V.. Die Herren sind keine Freunde halber Sachen: der Startschuss klingt, als würden alle tragenden Teile des olympischen Zeltdachs mit einem Mal in die Tiefe stürzen. Es ist mein sechster Marathon, aber eine so eindrückliche Aufforderung zum Loslaufen habe ich bislang noch nie erhalten. Aufgescheucht wie englische Stockenten stieben wir los.

München 1

© Perth – Fotolia.com

Die Sonne scheint schon jetzt und alles ist so prall und bunt, dass 8000 Läufer gleichzeitig versuchen, nicht ihre 5 km Bestzeit zu knacken. Mir kann das nicht passieren. Schließlich habe ich meine Marschtabelle wie immer am Vorabend auf ein Heftpflaster geschrieben, um sie mir auf den Arm zu kleben. Doch als ich jetzt auf meinen Arm schauen will, ist der ganz und gar nackt. Ich habe meine legendäre Marschtabelle in meiner Kleidertasche vergessen. Aber wie heißt ein altes Marsch- tabellen-Vergesser-Sprichwort: was man nicht im Kopf hat, muss man in den Beinen haben. Na gut. Dann laufen wir eben willenlos und unkontrolliert.

„Sie läuft sehr kontrolliert“ sagt Herbert Steffny. Aha, er kommentiert also doch. Außer mir kann ihn zwar niemand hören, aber das macht ja nichts. „Wie ist das Herbert“, sagt der Wortabschneider- kommentator „wenn man seine Marschtabelle vergisst, kann man dann überhaupt noch Bestzeit laufen? „Na ja, ich will mal so sagen“, sagt Steffny. „Einfacher wird das dadurch natürlich nicht.“ „Ich muss Dich mal unterbrechen, Herbert“, sagt der Wortabschneider „da vorne stehen Sabine und Marcus.“ Tatsächlich, jetzt sehe ich sie auch. Und freue mich. Zwischen den hunderten von Augen, die mich scannen, um möglichst schnell festzustellen, ob ich Papi, Holgi oder Susi bin, sind wahrhaftig zwei Augenpaare, die feststellen wollen, ob ich Frau Schmitt bin. Freunde an der Strecke tun gut.

Ich reiße die Arme nach oben wie Jim Knopf aus der Augsburger Puppenkiste, rufe ein sinnfreies „Ich hab Euch gesehen“ in die Menge und laufe weiter. Dieser Vorgang wieder- holt sich später an anderer Stelle, mit dem Unterschied, dass ich in der letzten Sekunde ein Schild bemerke, das Marcus in der Hand hält. Darauf steht „Frau Schmitt, ich will ein Kind von Dir“. Ich brauche zwei Kilometer, um mich wieder einigermaßen zu fassen.

[stextbox id=“info“ float=“true“ align=“right“ color=“696969″ bcolor=“f4a460″ bgcolor=“fff5ee“]Später nochmal lesen? Hier gibt’s eine Druckversion als PDF.[/stextbox]

Ich bin völlig ortsunkundig und so wartet hinter jeder Biegung eine neue Überraschung. Das ist das Schöne an Citymara- thons: die Autos, sonst aggressive Herrscher über die Stadt, müssen weichen und die Prachtstraßen mit der schönsten Aussicht gehören auf einmal mir. Mir ganz allein. Na ja, fast. Ein Van, der jetzt von rechts kommt, kann es nicht glauben. Dort ist eine Straße und er darf sie nicht überqueren. Der Fahrer mag sich von ein paar tausend mickrigen Läufern nicht daran hindern lassen und fährt beherzt die Absperrung um. Es knirscht und kracht. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.

München 2

Zum Marienplatz zu laufen ist wunderbar. Erstaunlich, in wie vielen deutschen Haus- halten es Trommeln gibt. Es kommen Läufer entgegen, aber ich bin viel zu verwirrt, um zu begreifen, ob sie schneller oder langsamer sind als ich. Bei der 10km-Marke schaue ich besonders gründlich auf die Uhr. „55 Minuten“, sagt Herbert Steffny „da hat sie sich aber viel vorgenommen“. „Ist das nicht zu schnell, Herbert?“ sagt der Unterbrecher. „Na, sie ist ja an sich ne erfahrene Läuferin, ich nehme mal an, sie weiß, was sie heute drauf hat“. Ich bin froh, dass Steffny an mich glaubt, ich hatte selbst da schon so meine Bedenken. Aber um mich herum trommelt’s und winkt’s und blasmusikt’s, da fällt das bremsen schwer. Und wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich wage sogar die Anstiege bis km17 im beinahe unverändertem Tempo. Vielleicht auch, weil die Strecke hier nur mäßig attraktiv ist. Das gilt sogar für die Musik: irgendwo scheppert ein Möchtegern- Franz-Lambert schauerlichen Alleinunterhalterbeat über den Asphalt. Zum Glück treffe ich bald einen lieben Bekannten, was mich wieder weiter nach vorne schiebt.

Inzwischen sind es 20 Grad im Schatten, was ich zwar nicht wissen kann, aber deutlich spüre. Ich tue es ungern, aber ich muss mir eingestehen, dass heute kein Bestzeitentag ist. Selbst ein Gelmarshmellow, das ich jetzt mümmle, macht mir unglaublichen Durst. Im Grunde macht mir alles unglaublichen Durst – trinken, mümmeln, atmen, Mund schließen, Mund öffnen, Uschi begrüßen, weiterlaufen, … Moment, Uschi? Tatsache,

da ist ja wieder eine Freundin, wie angekündigt, bei km 32. Schön. Ich bin längst im englischen Garten, ich bin im Schatten, ich bin gerettet. Bin ich das wirklich? Ich starre auf die Uhr und versuche, in den Zahlen einen Sinn zu erkennen. Mit der Bestzeit kann es nichts mehr werden, aber unter vier Stunden sollten es schon sein. Kann das noch klappen? Was man nicht in den Beinen hat, muss man im Kopf haben (altes Marathon- Zielzeiten-Kopfrechner-Sprichwort) und ich versuche auszurechnen, ob ich auf den letzten Kilometern noch etwas schlunzen darf, ohne über die Vier-Stunden-Marke zu kommen. Hier noch ein Becherchen Wasser, dort noch ein Schlückchen eigenes Getränk im Gehen – schön wäre das. Wieso sagt Steffny eigentlich nichts dazu? Kann der das nicht für mich rechnen? „Jetzt muss sie dem hohen Anfangstempo Tribut zollen“ sagt der Worthäcksler „das hätte sie eigentlich wissen müssen bei der Wärme“. „Ja, aber ich sag‘ mal, wenn sie dieses Tempo hält, wird es auf jeden Fall für eine Zeit unter vier Stunden reichen“. Na endlich Herbert, wo warst du bloß? Dann muss ich ja nur noch so weiter- schwanken. Schwer genug, wenn sich die Oberschenkel höflich, aber bestimmt verabschieden. Und man jetzt über eine RedBull gesättigte Straße läuft, auf der man beinahe festklebt.

Es sind noch weniger als 2 km. Es sind, wie bei jedem meiner Marathons, die schönsten. Ich schaue neben mich und sehe Gerd Rubenbauer auf dem Motorrad. Er ist ganz außer sich. Ich kann nicht richtig hören was er sagt, es klingt wie „unglaublich“ und „mit großen Schritten nähert sie sich dem Ziel“. Meine Schritte sind zwar alles andere als groß, aber so ist er eben, der Rubenbauer. Im großen Marathontor, dem Eingang zum Olympiastadion, werde ich mit buntem Licht und Trockeneis übergossen. Ich muss heulen und husten gleichzeitig und während mir die Gesichtszüge entgleisen, drückt ein Fotograf im Tunnel auf den Auslöser. Im Olympiastadion einlaufen zu dürfen, das ist völlig unwirklich. Im Innenraum stehen bunte Skulpturen und Häuschen einer chine- sischen Installation und ich fühle mich, als hätte ich seltsame Drogen eingenommen.

Ich laufe wie aufgezogen. Steffny hat Recht gehabt, es hat gereicht. Die Uhr zeigt 3:58:39.

München 3

Setzen. Jetzt setzen. Ich schaue nach unten und stelle fest, dass der Boden sich ca. vier Meter unter mir befindet. Gefühlte Höhe. Wie soll ich dort mit meinem Hintern hinkommen? Ich schaue mich um. Überall versuchen, in weiße Folien gehüllte Wesen den Boden zu erreichen. Ich mache es den anderen nach und probiere die „Ein-Kleinkind- setzt-sich-auf-den-Stuhl-Methode.“ Rückwärts auf allen vieren geht es. Sitzen, Wasser schlürfen und heimlich eine Medaille an die Brust drücken. „Das hat sie sich auch verdient“, sagt Herbert Steffny. „Sie hat ja dann doch noch ihre zweitbeste Zeit erreicht“.

Danke Herbert. Danke München. Stadt des Marathons der Medien.

München 4

[stextbox id=“grey“]Mehr zum Marathon in München gibt’s unter: www.muenchenmarathon.de[/stextbox]

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