„Es ist mir unbegreiflich, warum Menschen Marathon laufen“, sagte mir vor einiger Zeit eine Bekannte. Ich hatte sie zufällig am Rande einer Marathonstrecke beim Anfeuern getroffen. „Ist doch klar“, antwortete ich. „Durch das Training kann man essen wie ein Scheunendrescher und nimmt kein Gramm zu. Stattdessen bekommt man Beine wie Chardonnay-Flaschen und einen Po wie ein Aufbackbrötchen. Wer wollte das nicht?“ Meine Bekannte winkte ab. „Ach, ich kann auch alles essen. Ich ersetze einfach ein paar Sachen!“ „So?“ Ich war neugierig. „Zum Beispiel Zucker“, sagte meine Nebenfrau und trillerte ein bisschen auf ihrer Pfeife herum, um das Anfeuern nicht ganz zu vergessen. „Wir nehmen stattdessen nur noch Xylit. Das ist auch noch gut gegen Karies und man spart sich sogar das Zähneputzen!“ Das klang praktisch. Wer seine Zähne nicht mehr putzt, kann sicher bald seine Wochenendeinkäufe in den eigenen Zahnfleischtaschen nach Hause tragen. „Manchmal nehmen wir auch Stevia. Das ist ganz natürlich!“ Sie trillerte. „Schmeckt das denn?“, fragte ich. „Man muss natürlich die Bereitschaft haben, sich darauf einzulassen“, antwortete meine Bekannte. In einer Notiz an mich selbst notierte ich innerlich: „Stevia schmeckt nicht“. Gleichzeitig stellte ich mir erboste Marathonläufer an den Verpflegungsstellen vor, die eine Cola mit Stevia einfordern. Und ob es wohl Stevia-Gels gibt? „Salz lassen wir übrigens auch weg“, sagte meine zunehmend eifriger werdende Ernährungsberaterin. „Es ist einfach nicht gesund.“ Ich schaute auf die weißen Ränder auf dem T-Shirt eines Vorbeihastenden und nickte stumm.
„Das gleiche gilt für Getreide. Hast du nicht das Buch ‚Die Weizenwampe‘ gelesen?“ ‚Die Weizenwampe‘ hatte ich nicht gelesen, ebenso wenig wie ‚Der Roggennacken‘, ‚Die Dinkelschenkel‘ oder ‚Die Haferhüfte‘. Der eher kompakt gestaltete Läufer, der jetzt fröhlich winkend dem Pacemaker für die Zielzeit 3:30 folgte, schien das alles ebenfalls nicht gelesen zu haben, machte aber ungeachtet dessen einen recht lebendigen Eindruck. „Mit Low Carb habe ich außerdem fünf Kilo abgenommen!“, fuhr meine Bekannte fort. „Statt einem Berg Nudeln kann man ruhig auch mal einen frischen Salat essen.“ Beim Begriff „Berg Nudeln“ setzte bei mir unwillkürlicher Speichelfluss ein, der die durch „Low Carb“ entstandene Trockenheit in der Mundhöhle ausglich. Ich hatte mir gerade ein „Salad Loading“ am Vortag großer Marathonveranstaltungen vorgestellt, als meine Bekannte in enthusiastisches Trillern ausbrach. „Schau mal, da läuft einer als Banane verkleidet! Wie lustig ist das denn!“ „Ja, so ist das eben mit Läufern“, sagte ich. „Die lassen eben nix aus.“ Und nach kurzem Nachdenken ergänzte ich: „Und am liebsten auch nix weg.“
Bild © Tong Su – unsplash.com
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