Der Frankfurter Halbmarathon ist der traditionelle Saisonstart der Region. Ich habe mich ein Dreivierteljahr mental darauf vorbereitet. Physisch weniger, aber im Langstreckenlauf ist ja das Mentale das Allerwichtigste. Nur die letzten Wochen brach mir auch noch die mentale Vorbereitung weg, ich wurde kränklich und mich bestürmten allerlei andere Themen, die nach Abarbeitung riefen. Ich will nicht sagen, dass ich miserabel vorbereitet bin – aber treffen würde es das schon. Egal. Konfuzius sagt: Lauf einfach und es läuft. Oder so ähnlich. Deshalb melde ich mich am schönen großen Ex-Waldstadion nach. Eigentlich melde ich mich an, aber das sagt man eben so. Es ist viel zu früh, das gehört hier dazu. Um mich herum sind etwa 4.000 Läufer, die auch alle viel zu früh dran sind und einige von ihnen gähnen, als wollten sie mich einsaugen. Ich bin aber nicht sicher, ob mein Chip auch ordentlich auslösen würde, wenn ich im Inneren eines anderen Läufers liefe und so suche ich jedes Mal sofort das Weite, wenn wieder einer jaulend den Mund vor mir aufsperrt.

Ich trabe zur Damenumkleide in der Wintersporthalle und hänge ein wenig ab. Es ist nicht übermäßig schön dort, aber wenigstens kann ich mich aufwärmen und es gibt keinen Wind. Denn wenn man nicht gerade eingesaugt wird, wird man angeblasen und dieses Mal ist es schwerer zu entkommen. Im Gegensatz zu den obligatorischen schnellen Läufern mit Flatterhöschen finde ich es kühl. Der Jahrestag der Tsunami-Katastrophe in Japan, das zweite Rettungspaket für Griechenland, die Oberbürgermeisterwahl in Frankfurt, das alles ist vollkommen unbedeutend im Vergleich zu der Frage: „Was ziehe ich heute zum Lauf an?“ Ich laufe auf und ab, teste die gefühlte Temperatur und beschließe, tapfer auf die Weste zu verzichten. Es kommt bestimmt noch eine Mittagshitze. Die Frage nach dem passenden Startblock ist schneller beantwortet: ich nehme einfach den letzten. Dann kann mir nichts passieren, es werden voraussichtlich keine allzu unvernünftigen Läufer dort sein, die mich ziehend ins Verderben reißen. Ich peile einen 6er Schnitt an, unter 2 Stunden, das wird heute nichts. So ist es nun mal.

Bevor es losgeht, kann man sich noch einen Finisher-Becher abholen. Damit ist es in Wahrheit ein Starter-Becher, aber das steht eben nicht drauf. Das Gefäß gibt es anlässlich des 10. Jubiläums des Frankfurter Lufthansa Halbmarathons und man bekommt ihn in der Busspur. Das ist eine geheimnisvolle Einfahrt im Stadion und die Hinweise des Mannes am Mikrofon zum „Jubiläumsbecher in der Busspur“ klingen für meine Ohren wie eine Verkehrsmeldung: „Achtung Autofahrer, in der Busspur kommt ihnen ein Jubiläumsbecher entgegen. Fahren Sie äußerst rechts, überholen Sie nicht, wir melden es, wenn der Becher hinüber ist.“ Ein Buch mit dem Titel „Jubiläumsbecher in der Busspur“ würde garantiert ein Bestseller, da bin ich sicher.

Der junge Mann, der mir den Becher überreicht, ist ein bisschen verlegen, denn er muss eine Markierung auf meiner Startnummer hinterlassen, damit man sieht, dass ich schon einen Becher habe und mir nicht gleich ein komplettes Service für 6 Personen zulege. Allerdings habe ich meine Startnummer heute ziemlich weit oben angepinnt und nun zielt der Bechermann mit einem Edding auf meine Brust. Die Markierung gerät sehr filigran.

Ich mische mich wieder unter die Gähnenden und versuche, erste Trends auszumachen. Wenn so viele Läufer um einen herum sind, sieht man oft, was gerade angesagt ist. Zu meiner Verblüffung scheint „die Zigarette davor“ der letzte Schrei zu sein. Noch nie habe ich so viele Läufer vor einem Volkslauf rauchen sehen. Vielleicht haben sie das mit dem guten Vorsatz an Silvester falsch herum verstanden und alle gerade frisch mit dem Rauchen angefangen? Komisch.

Was vom letzten Jahr geblieben ist, sind die fröhlichen, bunten Farben bei Jacken, Shirts und Schuhen. Neutral- und Minimalschuhe sind der Hit, zwei Mal begegnen mir die Five Fingers. Ich stehe im letzten Startblock, ganz vorne, damit ich nicht so viel überholen muss, aber das hat seinen Haken. Ich friere fürchterlich. Und als letzte Starter müssen wir am längsten warten. In einem dichten Pulk wird es schnell warm, aber hier vorne zieht es mächtig. Ich zähle die Minuten. Als ich endlich loslaufen darf, versuche ich erst einmal nur irgendwie warm zu werden. Vielleicht bin ich deshalb gleich mal ein bisschen zu schnell. Aber ich bremse mich und so passiert nichts weiter. Gleich zu Beginn stehen ein paar Fans mit Transparenten am Wegrand. Die Fans rufen „Stoppt die Landebahn“ und „Schluss mit dem Fluglärm!“ Ich bin weit davon entfernt, abzuheben und unsere Schritte sind auch ziemlich leise. So fühle ich mich völlig zu Unrecht von der Seite andemonstriert. Auch habe ich den Verdacht, dass die Läufer um mich herum augenblicklich zu beschäftigt sind, um die Landebahn zu stoppen. Aber es soll ja jeder seinen Sonntag so verbringen wie er mag.

Nach etwa 3,5 komfortablen Kilometern am Waldrand geht es in die Bürostadt Niederrad. Dort ist es so langweilig, dass ich nach weiteren Trends Ausschau halten kann. Neben dem Rauchen ist das Mitnehmen von Münzen extrem hipp. Es klingelt, als hätte jemand zu einer Kollekte aufgefordert. Unzählige Läufer haben Kleingeld dabei. Wahrscheinlich für die Zigarettenautomaten unterwegs. Plötzlich verliert vor mir jemand ein paar Münzen. Möglicherweise möchte er so den Rückweg wieder finden, wie Hänsel und Gretel mit den Brotkrumen. Darüber denke ich eine Weile nach und merke kaum, wie wir die Bürostadt verlassen und am Mainufer entlang traben. Die Strecke ist herrlich breit, niemand kommt sich ins Gehege. Aber so ist das ja immer, wenn man Elite oder Schnecke ist und ich bin ja praktischerweise beides.

Unten am Mainufer zieht es wieder ganz schön, aber das tut es sonntags hier immer. Das ist der berühmte Sachsenhäuser Sonntagswind, den alle kennen, die hier ihre langen Wochenend-Läufe machen.

Unten am Mainufer zieht es wieder ganz schön, aber das tut es sonntags hier immer. Das ist der berühmte Sachsenhäuser Sonntagswind, den alle kennen, die hier ihre langen Wochenend-Läufe machen. Etwa zwei Kilometer geht es hier unten entlang, dann biegt man ab und es winkt ein Getränk und eine piepsende Matte. Als Getränk wähle ich einen süßen Tee und man kann den Veranstalter Spiridon Frankfurt gar nicht genug dafür loben, dass er an empfindliche Läufermägen denkt und nicht nur Eiskaltes anbietet. Nichts gegen die menschliche Wärme der Helfer, aber manchmal genügt das eben nicht. Mich macht der Tee jedenfalls glücklich. Die Matte piepst mir ein „Das Tempo solltest Du halten“ zu und so kann ich zufrieden weiter traben. Am Schweizer Platz, dem Zentrum von Sachsenhausen, steht eine reizende Fankurve, die einen wunderbaren Lärm veranstaltet. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Anwohner fluchen. Des einen Freud, des anderen Leid.

Als Ortskundiger weiß man sofort: Ich laufe jetzt in eine Richtung, in die ich eigentlich weder will noch muss.

Die bunte Läuferschlange zieht weiter in unbelebtere Gefilde. Bald sind wir wieder von Wald umgeben und es beginnt ein spannender Abschnitt. Als Ortskundiger weiß man sofort: Ich laufe jetzt in eine Richtung, in die ich eigentlich weder will noch muss. Das Stadion ist ganz woanders, aber der Strecke ist das ganz egal. Sie leitet die Läufer scheinbar ziellos ins Grüne. Um uns von dem Irrsinn abzulenken, hat der Veranstalter noch einmal eine kleinen Teeimbiss vorgesehen. Hier beginnt eine Wendepunktstrecke, die letzte Zweifel ausräumt: wir werden erst in die falsche Richtung geleitet und dann müssen wir alle wieder zurück. Auch im Jubiläumsjahr muss dieser Streckenfehler hier korrigiert werden. Wahnsinn. Ich sehe die Entgegenkommenden und denke, dass diese ja nun auch nicht viel schneller sind als ich, der Spuk also gleich beendet sein dürfte. Aber da ich unter Läufer-Demenz leide, habe ich die Streckenlängen vergessen und irre mich fürchterlich. Die Wendepunktstrecke (hin) nimmt kein Ende und erst als ich sie (rück) betrete, weiß ich, dass mir die vermeintlich beinahe gleich schnellen Läufer über zweieinhalb Kilometer voraus sind. Dieser Irrtum ist mir vor mir selbst peinlich.

Trotz solcher mentaler Schlaglöcher bin ich aber sehr guter Dinge. Es ist nun fast ein Jahr her, dass ich zuletzt einen Halbmarathon gelaufen bin, verletzungsbedingt war das letzte Jahr eines zum Ausblenden. Trainiert habe ich schlecht, aber mein Körper weiß ganz genau, was von ihm erwartet wird. Ich bin geschätzte 200 Mal diese Distanz gelaufen, sie ist ganz tief einprogrammiert. Ich halte die Geschwindigkeit, als wäre es ganz einfach. Ich weiß, nun muss ich nur noch einen Stinkefinger der Strecke überstehen. Bei Kilometer 19 ist das Stadion zum Greifen nah, es liegt vor einem wie gemalt, doch man tut gut daran, es wie eine Fata Morgana zu betrachten. Denn nun muss man nicht nur eine gewaltige Brücke hoch laufen, man muss die Arena auch noch umrunden. Wenn euch der Veranstalter erzählt, es handele sich bei der Umrundung nur um eine kleine, harmlose Schleife – glaubt ihm nicht! Es ist eine Lüge! In Wahrheit muss man vier Mal um das Stadion herum, wenn ich es recht bedenke, sind es sogar sechs Mal. Gefühlte acht. Oder zehn. Es hört einfach nicht auf. Man sieht dieses Dreckding und kreist wie eine enthirnte Wespe um den Pflaumenkuchen um das Stadion. Selbst wenn man das Schild „Jubiläumsbecher in der Busspur“ bereits lesen kann, geht es noch ein gutes Stück weiter.

Das ist ganz klar ein Fall für Amnesty und ich hoffe sehr, dass sich die Fluglärmdemonstranten im nächsten Jahr dieser Läuferquälerei annehmen. Im Ziel tun dann alle wieder so, als sei nichts gewesen, man bekommt die dollsten Getränke und es gibt mal wieder mein Lieblingsbier.

Und meine Lieblingsbananen von meinem Lieblingslieferanten. Ich denke, so soll der eben noch gefolterte Läufer mundtot gemacht werden. Damit das auch endgültig gelingt, gibt es in diesem Jahr auch noch einen sehr guten heißen Kaffee. Dazu zwar einen etwas seltsamen Kuchen, aber wer 4.000 Läufer besser verköstigen kann, der soll sich bei mir melden. 2:03 Stunden sind es geworden. Das ist nicht schnell, aber ziemlich schön. Soll sie doch kommen, die Saison.


Entdecke mehr von Laufen mit Frauschmitt

Subscribe to get the latest posts sent to your email.

11 Kommentare

  1. Ach, wie schön beschrieben! Ich war leider verhindert. Aber Dein Bricht bestätigt mir, daß ich im kmspiel in der richtigen Gruppe laufe. Man sieht und liest sich!

  2. Da ich ja selber nicht mehr laufen kann, lauf ich eben „mental“ ab und zu bei Dir mit – danke fürs mitnehmenlg Sigi

  3. Achim Achilles hätte keinen besseren Bericht schreiben können. Die endlosen Schlangen vor den Toiletten, könnten ein Grund dafür gewesen sein, warum viele erst im letzten Startblock gestartet sind. Man sollte beim Frankfurter Halbmarathon mindestens eine halbe Stunde für’s stille Örtchen einplanen.

  4. GROSSARTIG!Vielen Dank – trifft es genau und ist dabei auch noch unterhaltsam!VGKerstin

  5. Super!Echt klasse Bericht und so unterhaltsam !Ich muss echt sagen, dass ich gerne dabei gewesen wäre, wenn ich Deinen Bericht so lese. Vielleicht im nächstem JahrGruß aus Oldenburg

  6. Toller Bericht und sehr witzig! Wünsche Dir dieses Jahr alles Gute für das Laufen und keine Verletzungen mehr!

  7. während eines Laufs habe ich auch solche Gadanken, bloss spätestens im Ziel wieder alles vergessen. Aber das macht eben den Unterschied … hach Frau Schmitt echt schön geschrieben!

  8. Vielen Dank für den tollen Bericht. Die Toiletten beim Berliner Halbmarathon sind auch verbesserungswürdig. Wer da 10 Minuten vor dem Start auf die Idee kommt auf Klo zu gehen kann da bestimmt mit 30-40 Minuten rechnen.

Hinterlasse einen Kommentar