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Erleuchtung in aschgrau.

Erleuchtung in aschgrau.

Überall fanden in den letzten Stunden Silvesterläufe statt. Woher jedoch der Name „Silvesterlauf“ kommt, ist vielen Läufern nicht bekannt. Es geschah im Jahr 1731, als Sir William Edward Phileas Silvester, ein britischer Lord, am letzten Tag des Jahres beschloss, sich zu einem Waldlauf aufzumachen. Er hatte es sich einst als guten Vorsatz genommen, in diesem Jahr mit dem Laufen anzufangen und nun war es die letzte Gelegenheit, dieses Versprechen an sich selbst einzulösen. Leider regnete es an diesem Tage ungebührlich stark, so dass der Lauf zu einem vollen Misserfolg wurde. Silvester rutschte im schlammigen Wald aus und kehrte durchnässt, verdreckt und frustriert nach Hause zurück. Er ist seither nie wieder gelaufen. Zur Erinnerung an dieses wahrhaft einmalige Erlebnis werden Läufe am letzten Tag des Jahres nun „Silvesterlauf“ genannt. Überflüssig zu erwähnen, dass insbesondere europäische Läufer seither regelmäßig das Schicksal von Sir Silvester teilen und immer wieder und gerne am letzten Tag des Jahres im Regen laufen. Auch ich denke jetzt intensiv an den armen William, der heute vermutlich gar nicht erst aufgebrochen wäre. Es regnet, als würde man überall im Himmel bereits die Wasserflaschenkorken knallen lassen und beim Eingießen dauernd die Gläser verfehlen. Obendrein ist das Wolkendach in einem reizenden Aschgrau gehalten, eine Farbe, die meinem Teint nicht sehr schmeichelt, es sei denn, ich habe eine vom hitzigen Laufen leuchtend rote Murmel. Es hilft also nichts: ein roter Kopf muss her.

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Mein Trainingspartner und ich sind in diesem Jahr herzlich wenig gelaufen, vor allem nicht volks. Verletzungsbedingt war wenig zu wollen. Nun ist „nichts wollen“ allerdings die höchste Stufe der Läufererleuchtung, die es grundsätzlich zu erlangen gilt. Nur wer, zumindest gelegentlich, nichts will, dem wird reichlich gegeben. Insofern sind wir gerade sehr nah am Status eines Lama, womit nicht das spuckende Tier gemeint sein soll, obwohl auch das eine gern genommene Bewusstseinsstufe des Läufers ist.

Willenlos parken wir, wie ferngesteuert finden wir uns bei der Anmeldung ein und schieben uns, von einem unsichtbaren Band gezogen, in die Umkleide. An einem solchen Tag darf man nicht nachdenken, sonst würde man niemals einen beheizten Autositz verlassen, um sich, auf einen Startschuss lauschend, in den strömenden Regen zu stellen. Wir laufen uns ein und es ist etwa so kuschelig wie an Deck eines Fischkutters in der winterlichen Nordsee. Wir laufen und laufen, damit wir nur nicht stehenbleiben müssen. Irgendwann lässt sich das aber kaum vermeiden und mit dümmlichem Hüpfen versuchen wir, nicht auszukühlen. Als im Blockstart endlich unsere Gruppe an der Reihe ist, bin ich ebenso froh wie durchnässt.

Obwohl es durch den Wald geht, sind weite Teile der Strecke asphaltiert, was den Pfützenslalom auf wenige schwierige Abschnitte begrenzt. Da ich aber ja erleuchtet bin, nehme ich keinerlei Manöver in rutschiges Unterholz in Kauf, um ein paar Sekunden zu sparen. Ich laufe vielmehr in Gedenken an William Edward Phileas, der, anders als ich, keine schicke Nike+ Uhr und kein so wärmendes Wams trug, wie ich heute. Außerdem trage ich einen Pferdeschwanz, der langsam immer schwerer wird. Mein Haar kann erfahrungsgemäß mühelos 7 bis 8 Liter Wasser aufnehmen. Diese im Nacken getragen, lassen mich erhobenen Hauptes laufen. Interessant. Der erste Kilometer gerät schneller als 5:30, das ist schneller, als ich will, obwohl ich ja eigentlich nichts will. Ich bremse ein wenig.

Die Strecke ist recht voll und ich kann gut Laufmoden-Watching betreiben. Der klare Gewinner unter den Kopfbedeckungen ist eine Einweg-Duschhaube, getragen von einem kräftigen Herren. Das ist stilsicher und kreativ. Weiterhin gefällt mir die Idee, nur einen Kompressionsstrumpf zu nehmen und damit der monströsen Gewohnheit der Waschmaschine, einzelne Socken in einem geheimen Salzsäurebottich unter der Trommel aufzulösen, selbstbewusst zu trotzen. Außerdem erfreuen mich jegliche Neonfarben (ein lautes „Ätsch!“ in Richtung des grauen Himmels), und nackte Beine, die bald von schlammbraunen Pünktchen übersät sind. Ich fließe einfach mit der Menge mit, schaue selten auf die Uhr und lausche dem hundertfachen „Pitsch, pitsch, pitsch“ auf nassem Weg. Viele Läufer bevorzugen dagegen ein „Mumpf, mumpf, mumpf“, das auf ihre Ohren donnert, was ich wieder einmal nicht verstehen kann. Was ist ein Volkslauf ohne Volkslaufgeräusche? Mein Leben soll kein Stummfilm sein und so eile ich offenen Ohres weiter durch den Wald. Die Strecke ist nicht weiter spektakulär und deshalb bleibt als Eindruck der mal klatschende, mal dampfende Regen und das bunte Band immer schwerer atmender Läufer, das sich wie ein einziger Organismus durch den Wald schlängelt.

Bei Kilometer sieben ist ein kleiner Hügel zu nehmen und zum ersten Mal fange ich an zu rechnen. Nun will ich ja nichts, aber wenn „nichts“ gleichbedeutend mit einer Zeit unter 55 Minuten wäre, wäre mir das jetzt dann schon lieb. Auf den letzten Kilometern geht es öfter mal leicht bergan, das muss man für das nichtsgleiche Ergebnis mitberechnen. Luft wäre allerdings da, sowohl in meinen Lungen, als auch in meiner Berechnung und deshalb könnte ich es versuchen. Dann hätte auf dem Zielfoto mein Teint auch die Farbe, die mit dem Himmelsgrau so gut harmoniert, das wäre ja schön, so für das letzte Foto des Jahres.

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Update: Hier isses, das obligatorische Bild mit den hektischen Flecken.

Ich stürze also weiter vorwärts, aus dem Wald hinaus und an den Schienen entlang in Richtung Waldstadion, was nicht mehr Waldstadion heißt, sondern Dingsbums Arena (ich mag keine Bank in meinem Laufbericht haben) weil heute alles Arena heißt, während Stadion irgendwie unccol zu sein scheint. Das ist mir aber im Grunde alles egal, Hauptsache, da kommt bald das Ziel und Hauptsache, es gibt bald das beste alkoholfreie Weizen der Welt, was sich Faust nennt und von zwei enorm reizenden Herren ausgeschenkt wird. Ich stoppe die Uhr bei 54:13, das ist wirklich fein für ein mieses Training in einem verkorksten Laufjahr. Lange sollte man Bier und Banane (von Querbeet, die ebenfalls nicht genug zu loben sind) allerdings nicht im Freien genießen, denn die Erkältung klopft sonst schnell mit einem Hämmerchen an das erschöpfte Naseninterior.

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Nun muss, bevor der Kuchen als nächste Stufe der Belobigung winkt, nur noch eine Hürde genommen werden: die Damenumkleide. Ein Albtraum im Nebel. Ich bin sicher, ein einziger Besuch in einer handelsüblichen Damenumkleide mit 47 Frauen auf 11 Quadratmetern, die alle ihre Socken ausschütteln, sich feuchte Nebel unter die Achseln sprühen, mit aus furzenden Flaschen kriechender Lotion einölen und sich mit schlagbohrerlauten Haartrocknern ondulieren, würde selbst Casanova von weiteren Eroberungen abgehalten haben. Auch hier geht es um Geschwindigkeit: schnell raus hier. Zu viel Hautkontakt mit fremden Menschen ist auch nicht gesund.

Die Atmosphäre in der Sporthalle ist nicht eben gemütlich. Aber man gibt sich wie immer Mühe, die Läufer liebevoll zu verköstigen, was bei weit über 1.000 Teilnehmern eine Herausforderung darstellt. Doch Spiridon Frankfurt meistert das, wie überhaupt die gesamte Veranstaltung, mit Professionalität und Laune.

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Wir mümmeln unseren Kuchen und starren dabei fassungslos auf eine entfesselte kleine Gruppe, die sich unmittelbar vor uns komplett umzieht und uns dabei mehr schwingende Körpermasse zeigt, als wir sehen wollten. Dann doch lieber die Damenumkleide. Oder am allerliebsten: den beheizten Autositz. Es ist Zeit, einen erleuchteten Lauf im Geiste von William Edward Phileas Silvester zu Hause weiter zu genießen.

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8Antworten um “Erleuchtung in aschgrau.”

  1. Stefan Büttner Says:

    Silvester durch den nassen Wald,
    den Schweinehund just überwunden,
    wir können es nicht lassen, halt
    und sind durch Läufer-Lust verbunden

    frohes neues Läuferjahr
    wünscht
    Stefan

  2. Sancho Says:

    Ein wundervoller Laufbericht, wie es sich zum Jahresende gehört. Guten Rutsch!

  3. Matthias Says:

    Eine tolle Lektüre zum 01.01. 🙂

  4. Bee Says:

    Ach, was habe ich mich gerade über deinen Blick auf den Silvesterlauf gefreut. Ein paar Kilometer weiter Richtung Norden war es ähnlich nass, ähnlich schräg, ein bisschen familiärer aber dennoch genauso unschönschön:-). Gestern dachte ich ’nie wieder‘, aber heute weiss ich, dass ich am 31.12.2012 auch wieder in irgendeiner kalten, grauen Jahresendläufer-Masse stehen werde!!

    Alles Gute und ein erfolgreichen, vor allem gesundes und verletzungsfreies Jahr!

  5. knopf13 Says:

    Was habe ich Deine Laufberichte vermisst. Danke, dass Du mal wieder alles auf den Punkt gebracht hast.

    Ein mußt Du uns aber noch verraten: wo bekommt man denn die butlermässigen, schneeweißen Läuferhandschuhe her?

    Ich wünsche Dir ebenfalls ein gesundes und verletzungsfreies Jahr 2012
    Uwe

  6. admin Says:

    Lieber knopf13, schau mal hier, das sind so Dinger:
    https://www.arbeitskleidung-gastronomie-hotels.de/de/Gastronomie-Hotel/Arbeitshandschuhe-Servierhandschuhe.html?x48e50=fd910371b290224570e6fc7f529476f0
    Einfacher Kellnerhandschuhe gibt es oft günstig, da, wo es Berufskleidung gibt, aber auch in Kosmetikabteilungen oder Apotheken, wo sie dazu dienen, dass Cremes oder Salben besser einziehen können. https://www.purenature.de/shop/a534/baumwollhandschuhe-groesse-8-9-gross.html Die sind nicht übermäßig haltbar, aber das ein oder andere Mal waschen kann man sie schon. Es sind eben leichte Nothandschuhe, diese hatte ich mir geliehen, weil ich meine vergessen hatte. Ich mag sie, weil man damit ein bisschen aussieht wie Micky Mouse. 🙂

  7. claudia Says:

    liebe frauschmitt, auch wenn wir schon fast ende januar haben und ich erst eben deine seite aufgeschlagen und den silvesterbericht gelesen habe: ich wünsch dir auch ein schönes, schnelles und verletzungsfreies rest-2012!! wie immer so wunderbar zu lesen, vor allem die beengte umkleidesession …. aber im ernst, schlechtes wetter hat einen riesengroßen vorteil: ich bin silvester für mich im park gelaufen und KEIN kinderwagen, KEINE kleinkinder auf minirädern, die ohne grenzen oder mütterliche worte durch die gegend eiern, keiner kickte mich von der bahn, was normalerweise der fall ist. man ists eh gewöhnt, sich dünne zu machen, man läuft gaaanz weit rechts oder gleich auf dem rasen, oder man läuft gefahr, von diversen entgegenkommenden gerätschaften, die in der regel nicht einen Zentimeter beiseite rücken (können? wollen?), angekarrt zu werden (zur erklärung, bin selber mutter und hatte diverse dingenskirchen durch die gegend geschoben und den kindern radfahren beigebracht, aber vielleicht gabs damals weniger läufer?? oder ich hab tatsache auch den entgegen kommenden platz gemacht, kann mich nicht so genau erinnern), aus diesem grunde liebe ich regen, da hab ich die laufpiste mal für mich und die paar läuferleins kommen gut aneinander vorbei, meist sogar mit dem kurzen gruß auf den lippen, also schlechtes wetter hat auch was nettes. in berlin-prenzlauer berg lernt man es zu schätzen ;-)) freu mich auf weitere laufberichte von dir, und wünsch dir (und uns, die wir davon partizipieren dürfen) viele schöne läufe 2012, claudia

  8. anniken Says:

    Alptraum im Nebel-oh ja ist mir bekannt.

    HM Potsdam-die Umkleide krachend voll,kein trockener Platz,weder Bank noch Boden und annähernde Saunatemperaturen.
    Empfehlung: schnell duschen -das nötigste überwerfen-auf extreme optische Akzente verzichten und schnell in den Vorraum oder Flur flüchten und denn Rest sortieren!

    Viele erfolgreiche Läufe


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