Ich weiß immer noch nicht, wer Ralf Pagels ist. Oder war. Und das, obwohl ich schon zum wiederholten Male beim Ralf Pagels Gedächtnislauf antrete. Nun könnte ich ja einfach jemanden fragen. Aber das wäre irgendwie langweilig. Stattdessen arbeite ich lieber verdeckt investigativ. Bereits früher habe ich herausgefunden, dass es sich um keinen Wasserbettenverkäufer handelt. Jetzt habe ich eine neue Spur. Sie führt über den Streckenplan des Halbmarathons in Nidderau Eichen, der nach Ralf Pagels benannt ist. Ein schwarzer Pfeil im Südwesten der Strecke führt ins Nichts. Ich halte es für wahrscheinlich, dass es sich bei Ralf Pagels um einen Läufer handelt, der einst bei einem früheren Halbmarathon diesem Pfeil folgte und danach verschollen blieb. Eine Passantin in Ostheim glaubte, ihn dort noch einmal gesehen zu haben, aber danach verliert sich jede Spur. So muss es gewesen sein.

Da ich dieses Rätsel nun also gelöst habe, kann ich mich im nächsten Jahr darum kümmern, wer unter den beiden Hügelgräbern an der Strecke liegt und warum „Dicke Steine“ in der Karte eingezeichnet sind, nicht aber „Große Bäume“, „Altes Laub“ oder „Ungenießbare Pilze“.

In Nidderau Eichen gibt es zwei Volksläufe, die von unterschiedlichen Veranstaltern ausgerichtet werden und natürlich unterschiedliche Streckenverläufe haben. Für einen Ort mit 2.000 Einwohnern ist das beachtlich. Zumal es noch im Jahr 1587 dort gerade mal 73 Einwohner gab und zwar 48 Schützen und 25 Spießer, wie Wikipedia weiß. Zu meinem Bedauern steht nicht da, wie sich die Aufteilung von Schützen und Spießern heute verhält. In diesem Jahr fällt der zweite, der sommerliche Nidderauer Volkslauf leider aus, ich muss also heute hier antreten, sonst wird es ein Laufjahr ganz ohne Nidderau Eichen und das wäre nicht schön.

Im Bereich des Parkplatzes zum Sportgelände begrüßt uns ein Plakat des „Zauncentrums“ Maintal-Bischofsheim. Ich habe es vor Jahren hier schon gesehen , möglicherweise ist es ja ein historisches Plakat aus dem Jahr 1587. Im „Zauncentrum“ wird man von einem illustrierten Mann mit gelben Hosen und starkem Dialekt bedient. Es könnte sich also lohnen, dort mal vorbeizuschauen. Die Adresse seht ihr ja im Bild.

An diesem Wochenende ist ja wieder einmal der Frühling angekündigt, der wohl im letzten Jahr ebenfalls dem Pfeil nach Ostheim gefolgt ist und deshalb auch lange verschollen blieb. Nun soll er also den Weg zurückgefunden haben. Als wir uns zum Lauf anmelden, ist er scheinbar noch unterwegs, denn es ist empfindlich kalt. Dabei bin ich heute wild entschlossen, mit einer ¾-Hose zu laufen, komme, was da wolle. Dabei sind ¾ -Hosen nicht einmal schön, aber für eine kurze reicht mein Mut dann doch nicht. Der reicht nicht einmal für die geplante Kombi aus langem und kurzem Shirt. Eine Weste muss her, es ist zu kalt.

Die Umkleide ist dafür schön warm. Mitten im Raum steht eine ehemals weiße Notfall-Liege, auf der sicher schon zahlreiche Schützen und Spießer nach dem Schießen und Spießen behandelt worden sind. Das schafft Vertrauen. Die Laufschuh-Mülleimer-Installation früherer Jahre wurde dagegen inzwischen vermutlich an wohlhabende Kunstliebhaber verkauft. Es sei dem Veranstalter TV Windecken gegönnt. Wir laufen uns ein wenig ein. Hier kann man das besonders gut, denn der Wald ist vor unserer Nase und bietet eine putzige Runde an, auf der man nicht einmal wenden muss. Es bleibt kalt, die Weste ist richtig. Und der Start lässt noch auf sich warten. Als Übersprungshandlung kaufe ich ein paar „Verzehrbons“ für später. In Nidderau hat man dafür eine richtige Registrierkasse. High Tech.

Schließlich stellen wir uns doch zum Start auf. Das Feld bleibt familiär, wie sich später herausstellt, treten gerade einmal 122 Läufer im Geiste von Ralf Pagels an. Hinzu kommen noch einmal insgesamt etwa 200 Läufer beim 5- und 10km Lauf. Der Kuchen wird für alle reichen, man könnte es also langsam angehen lassen. Von den 122 Läufern tragen etwa 100 neue Schuhe. Gefühlt. Zum Saisonstart haben sich scheinbar viele ein paar neue Schlappen gegönnt. So auch ich. Ich trage meine geliebten Brooks Ghost, es wird ihr zweiter Lauf. Ich vertraue fest darauf, dass das in Ordnung geht. Start.

Im Nidderauer Wald muss es viele Taranteln geben. Das wäre zumindest eine Erklärung, dafür, dass alle wie frisch gebissen losschießen. Auch mein Trainingspartner schlägt einen optimistischen Schritt an. Ich versuche, nicht mitzuhalten, denn ich weiß, dass die Strecke schwierig ist und einige Steigungen parat hält. Das erste Mal in meinem Leben laufe ich einen Wettkampf mit Pulsuhr (mehr dazu später an anderer Stelle). Ich bin nicht sicher, was es mir nutzt, aber ich probiere das mal. Gleich zu Beginn bin ich bei 90% meiner maximalen Herzfrequenz. Nach einem Triumphlauf klingt das nicht. Und es fühlt sich auch nicht so an. Aber man soll ja nicht zu früh die Flinte in den Wald werfen, wie schon die Nidderauer Schützen gesagt haben. Man soll einfach laufen, als wär nichts. Das kleine Feld zieht sich sofort auseinander. Ganz weit vorne sehe ich gelegentlich etwas Hellblaues auf und ab ruckeln. Ich kann nicht einmal sagen, ob sich das Dings im Hellblauen das Hellblaue in der Kabine links (Mädchen) oder rechts (Jungs) übergestreift hat. So weit sind also die Entfernungen. Ich laufe mit meinem Trainingspartner zusammen, so leide ich zumindest nicht allein. Außerdem ist mir vor der Abzweigung nach Ostheim ein wenig bange.

Der deutsche Forst neigt ja zu einer gewissen Schneisigkeit – die Wege sind breit wie Autobahnen und alle Abzweigungen ordentlich im rechten Winkel hineingesägt.

Es stellt sich dann aber doch heraus, dass die Wegmarkierungen, anders als die Karte vermuten lässt, geradezu vorbildlich sind. Es ist alles mit Sägemehl abgestreut, Wegkreuzungen oft zusätzlich mit Absperrbändern gesichert. Voraussichtlich werde ich nicht im Wald verloren gehen. Ich bin sehr froh darüber und das, obwohl der Nidderauer Wald wirklich ungeheuer schön ist. Der deutsche Forst neigt ja zu einer gewissen Schneisigkeit – die Wege sind breit wie Autobahnen und alle Abzweigungen ordentlich im rechten Winkel hineingesägt. In Nidderau gibt es aber schmale, sich schlängelnde Wege mit wunderschönen Kurven, durch die man hindurchschießen kann, wenn man die Begegnung mit den Nidderauer Taranteln gemacht hat. Sicher werden die Taranteln auch auf den Tafeln „Tiere des Waldes“ vorgestellt, die hier überall angebracht sind und zum Projekt „Lernort Wald“ gehören. So weiß man immer gleich, welches Tier einen hier anfallen könnte. Die Waldohreule oder der große Abendsegler zum Beispiel, vorausgesetzt, man ist sehr lange unterwegs. Und gerade das zeichnet sich jetzt ab. Mein Puls ist weiterhin in ungesunden Höhen und mir ist nicht so richtig wohl. Alle fünf Kilometer gibt es Wasser und ich greife jedes Mal zu. Man kann trinken und ein paar Schritte gehen. Vor allem das Gehen tut Not. Heute ist nicht mein Tag.

Immer wieder gibt es Steigungen, nie kann man sich ausruhen. Und es gibt keine anderen Läufer, weit und breit nicht.

Die neuen Schuhe schlagen sich wacker und werden in einer Schlammpassage auch richtig eingeweiht. Ein neuer Schuh braucht sowas. Mit Nidderauer Waldschlamm ist man würdig getauft. Aber so boingboing der Schuh auch ist, ich bin es nicht. Vielleicht fehlt mir auch einfach etwas Zucker, diese vermaledeiten Nachmittagsläufe aber auch! Nie kriege ich das mit dem Essensrhythmus richtig hin. Morgens ist das so einfach! Banane oder Riegel eine Stunde vorher – fertig. Jetzt hat sich zwar der Puls etwas beruhigt (was mich wiederum beruhigt), aber wenn ich sehr nach unten schaue, habe ich das Gefühl, dass mir flau wird. Was ist das bloß? Jedenfalls etwas Unbekanntes. Ich muss sehen, dass ich nach Hause komme. Als wir zum zweiten Mal an der Tafel mit den Tagfaltern vorbei kommen, weiß ich immerhin, dass ich auf dem besten Weg bin. Und dennoch, die letzten fünf Kilometer werden sehr hart. Immer wieder gibt es Steigungen, nie kann man sich ausruhen. Und es gibt keine anderen Läufer, weit und breit nicht. Irgendwann haben uns zwei Menschen überholt, das war’s. Nur das Hellblaue hüpft noch ab und zu in weiter Ferne auf und ab.

Das einzige, was mich jetzt von meiner Pein ablenken kann, sind die hübschen Vogelkästen, die im Nidderauer Wald Hausnummern haben. Das liegt daran, dass die wenigsten Vögel hier bereits über einen Internetanschluss verfügen und deshalb in Ermangelung von E-Mails auf die Zustellung der Nachrichten per Post angewiesen sind. Ich halte also Ausschau nach einem Pirol, der hier vermutlich wegen seines gelben Gefieders im Postdienst tätig ist und das lenkt mich etwas ab. Leider nur kurz, dann quäle ich mich wieder. Das flaue Gefühl macht mir Sorgen. Ist das Kreislauf? Seit wann hab ich Kreislauf! Wo liegt eigentlich Ostheim? Hat man die Hügelgräber vielleicht für mich ausgehoben? Und ist das hier schon der dazugehörige Hügel? Wird das „Zauncentrum“ für meine Grabeinfassung sorgen? Es geht mir wirklich nicht gut.

Auf der letzten Rille erreiche ich das Ziel. Ziemlich genau 2:05:57. Ich bin hier schon mal 1:52 gelaufen. Weh mir. Ich trinke kräftig und der gezuckerte Tee tut gut. Lange kann ich mich hier aber nicht aufhalten, denn das Ziel ist ein gutes Stück von der Umkleide entfernt. Auch wenn es mich unterwegs nicht dahin gerafft hat – hier würde ich mir eine Blitzlungenentzündung holen und sofort das Zeitliche segnen. Mit etwas Glück würde der Lauf dann vielleicht in Heidi Schmitt-Gedächtnislauf umbenannt, aber das ist mir die Sache nicht wert. So schnell ich noch in der Lage bin, trabe ich zur Umkleide und widerstehe dort der Versuchung, mich auf die historische Schützenliege zu werfen. Ich habe schließlich Verzehrbons.

Auch das Phone hat Kreislauf: der Kuchen bleibt unscharf.

Bei der anschließenden Siegerehrung zeigt sich, wie geschickt wir unseren heutigen Volkslauf ausgewählt haben – wir werden beide Dritte unserer Altersklasse. Damit habe ich noch sagenhafte drei andere hochbetage Damen meiner Kategorie abgehängt. Man soll ja nicht undankbar sein. Alte Nidderauer Schießer- und Spießer-Regel.


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4 Kommentare

  1. versilberte Turnschuhe als Pokal oder was steht da auf dem Tisch? Das sind doch eindeutig die, die sie aus dem verlinkten Mülleimer gezogen haben!? … Nette Idee der Wiederverwertung ;)wie gut, dass Hessen auf meiner Länderliste noch offen ist. Deinen Berichten nach müssen die ganz was besonderes sein :o)

  2. Das mit den Taranteln kann ich bestätigen. Leider gab es davon nicht genug , für mich blieb nur eine Tsetsefliege übrig. ;-)Danke für den netten Bericht. 🙂

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