Macht sich ein Läufer auf eine sogenannte krumme Strecke, heißt das nicht, dass es dort vor Biegungen nur so wimmelt. Es bedeutet vielmehr, dass die Streckenlänge nicht hübsch auf eine glatte Zahl aufgerundet wurde, sondern einfach endet, wo sie endet. Langstreckenläufer haben ein Herz für krumme Strecken, schließlich ist schon der Marathon mit 42,195 km eine ziemlich behämmert Streckenlänge, die man lieb gewonnen hat. Den Arque-Lauf kann man ebenfalls nur lieb haben und das nicht nur, weil er 34,631 km lang ist. Aber von vorn.

Es ist rätselhaft, warum sich noch kein einziger Laufbericht zum Arque-Lauf in meinem Blog findet, denn er ist wichtig. Für die Laufregion Rhein-Main, für seinen Sinn und Zweck und auch für mich. Im Jahr 1999 lief ich ihn zum ersten Mal. Damals war er noch 31 km und ein paar zerquetschte Meter lang, wenn ich mich recht erinnere. Meine Lauferfahrung währte kaum mehr als ein halbes Jahr, nie zuvor war ich so weit gelaufen. Aber im Jahr 2000, das hatte ich mir vorgenommen, wollte ich Marathon laufen und der Arque-Lauf schien mir geeignet, zu testen, ob das nicht alles grober Unfug war, was ich da wollte. Würde ich allerdings 31 km überleben, da war ich mir sicher, dann würde ich auch den Rest irgendwie hinkriegen.

Der Arque-Lauf ist für solche Tests wie gemacht. Denn er ist kein Wettkampf. Gelaufen wird mit Hilfe von Pacemakern in Gruppen mit festgelegten Geschwindigkeiten. Damals konnte man aus fünf Geschwindigkeiten zwischen 4:30 min/km bis zu 6:30 min/km wählen. Heute ist Langsam das neue Schnell und der ganze Geschwindigkeitenblock verschob sich um 0:30 in Richtung gemütlich. Das ist auch in Ordnung, die wenigsten wollen im November bei einem Lauf ohne Wettkampfcharakter durch die Landschaft jagen. Auch an die Fußlahmen ist inzwischen gedacht: Wem 34,6 km zu viel sind, der kann auch unterwegs an den Verpflegungsstellen einsteigen und läuft dann 22,114 km (Sprint L), 14,486 km (Sprint M) oder 8,814 km (Sprint S). Wer sich nun langsam verwirrt am Kopf zu kratzen beginnt, dem sei gesagt, dass man auch noch zwei weitere Strecken mit dem Rad zurücklegen kann. Denn der Arque-Lauf heißt seit einigen Jahren nicht mehr so, er nennt sich nun „Arque run & bike“. Kommunikativ ist das alles ein bisschen knifflig, aber dazu komme ich später noch.

So, nun muss ich nur noch den Namen erklären, dann hab ich es bald geschafft. Der Lauf heißt so, weil sein Erlös der Arbeitsgemeinschaft für Querschnittsgelähmte mit Spina bifida Rhein-Main-Nahe e.V. (ARQUE) zugute kommt. Er spricht sich also „Arke“ aus. Was ich hartnäckig ignoriere. Ich finde das französisch genäselte „Arg“ viel schöner, vielleicht auch, weil es arg lang dauert, den Hintergrund des Laufs zu erklären. Leser sollten an dieser Stelle kurz durchatmen und sich einen Keks nehmen, ich bin nämlich noch nicht fertig.

Der Arque-Lauf geht von Kelkheim nach Mainz. Das ist keine willkürliche Strecke. Der Initiator des Laufs, Michael Lederer, lief diese Strecke an einem kalten Wintertag des Jahres 1988. Er tat das, um seinen Sohn im Krankenhaus zu besuchen, der mit einer Querschnittslähmung zur Welt kam. Mit ihm wurde auch die Idee zum Benefiz-Lauf geboren. Michael Lederer ist nicht irgendein Hobbyläufer (vielleicht einen zweiten Keks?). Er war mehrfacher Deutscher Meister auf verschiedenen Mittelstrecken und hielt 32 Jahre lang mit Thomas Wessinghage und zwei weiteren Läufern den Weltrekord über 4 x 1.500 Meter. Das macht den Arque-Lauf nicht besser oder schlechter, aber es zeigt, dass der Lauf im Herzen eines großen, mitfühlenden Läufers entstand und da kann man ja doppelt respektvoll darauf hinweisen.

Zwei Wochen nach dem Frankfurt Marathon rotten sich nun also traditionell sonntags morgens einige Menschen zusammen, die mit ihrer Zeit nichts besseres anzufangen wissen, als von Kelkheim nach Mainz zu laufen, sich dort in einem Zelt trockene Sachen anzuziehen und mit einem Bus wieder zurückzufahren. Diese Art Blödigkeit liegt mir und so habe ich nach meinem ersten Mal (ich habe damals – wenn auch nur mit viel Mühe – mein Ableben auf den letzten Kilometern vermeiden können) immer wieder am Arque-Lauf teilgenommen. In den letzten Jahren passte es allerdings nie, es kamen wahlweise ein Marathon oder Unpässlichkeiten dazwischen. (Jetzt vielleicht ein Glas Milch zum Keks?)

Wir finden uns an der Sportanlage „Am Reis“ ein und versuchen eine Querschnittswettervorhersage aus allen gehörten und gelesenen Wetterberichten zu bilden. Es wird regnen, das steht fest. Nur wann und wie viel, darüber tappen wir im Dunkeln. Das Dunkle befindet sich in einem Flur zum Anmeldezimmer, wo wir uns nachmelden. Danach stehen wir ein wenig herum, weil wir Einlaufen in diesem Fall für albern halten. Stattdessen frieren wir. Doof. Aus einer raffiniert wettergeschützten Musikanlage (man hat sie einfach gar nicht erst aus dem Auto ausgeladen) singt Adriano Celentano von einem knallblauen Sommerhimmel in Italien und wir starren versonnen auf die brackig schwankenden Blätter auf dem anlageneigenen Pool, über dem sich ein Himmel mit einem hübschen Aschgrauton wölbt. Zeit, die Sporttaschen einem LKW anzuvertrauen und mit hochgezogenen Schultern zum Start zu trippeln.

Frau Schmitt, reichlich müde und verfroren.

Wir suchen unsere Gruppe und stellen uns zu dem fröstelnden Häuflein hinter dem Buchstaben E. Michael Lederer schickt jede Gruppe persönlich im Abstand von einigen Minuten mit ein paar warmen und erklärenden Worten auf die Strecke. Dann schlappen wir los.

Gabi Gründling (laufticker.de) läuft heute den 4:30er Schnitt. Oder etwa nicht?
F ist das neue A! Der 4:30er Schnitt ist Geschichte.

Bei einer solchen Streckenlänge liegt es in der Natur der Sache, dass sich das Tempo zu Beginn kommod anfühlt. Schon jetzt weiß ich, dass das nicht so bleiben wird. Der Startschuss erweist sich als Startschuss zum Reden, fast alle stürzen sich in ein verbales Gemenge, als sei soeben die Zeit ihres Schweigegelübdes abgelaufen. Wie immer neigen einige Laufredner zur Ganzgruppenbeschallung, in der Regel nicht die eloquentesten. Ich denke eine Weile darüber nach, ob es nicht eine gute Idee wäre, einen Schweigelauf zugunsten Zungenamputierter ins Leben zu rufen, verwerfe die Idee nach einem Blick in die Runde jedoch rasch. Es würde keiner kommen. So hoffe ich eine Weile auf eine interessante Geschichte, gebe aber nach der Vielzahl von „Ich bin dieses Jahr in …. eine Zeit von …. gelaufen trotz meiner langwierigen Verletzung …“ auf. Hinhören ist ohnehin riskant, man könnte in den offenen Mund einer der Witzbolde laufen, die ihre Umlaufenden mit lautstark gerufenen, bis zur Unwitzigkeit entstellten Scherzen traktieren.

Gleich zu Beginn sind einige Steigungen zu bewältigen. Wir sind schließlich im Taunus. Ich hatte sie alle vergessen. Die Pacemaker maken Pace, dass es nur so eine Art hat. Genau genommen ein bisschen zu viel. Aber irgendwann, auch das weiß ich, schiebt sich das alles zurecht. Ein Motorrad mit wichtig blinkendem Blaulicht eskortiert uns. Das hat schon etwas Nobles. Wir stiefeln nach Süden Richtung Hofheim und können einen Waldabschnitt genießen. Einer der Witzbolde instruiert ungefragt eine bemitleidenswerte Dame genauestens zu Schrittlänge und Schrittfrequenz am Berg und korrigiert sie, als habe er eine Dreijährige neben sich. Zwischendurch hat jemand rechtzeitig einige Blechbläser gepflanzt, die auf dem fruchtbaren Taunusboden gut gediehen sind. Posaunen übertönen Scherze und Instruktionen und das ist doch fein. Vom Genuss des angebotenen Jagertees sehen wir dann aber ab. Wer weiß, welches Debakel der in unserem Gekröse anstellen würde.

Die erste richtige Verpflegungsstelle hat man an einer Shell-Tankstelle bei Marxheim aufgebaut. Leider zieht es mich in die dortige Toilette und ich weiß, was das bedeutet. Es wird zu knapp. Es ist immer zu knapp. Das Päuschen ist verdammt kurz für Getränk rein und ehemaliges Getränk wieder raus. Als ich die Kabine entere, höre ich den Ruf, dass es weiter gehen soll. Egal – was getan werden muss, muss getan werden. Als ich wieder auf die Straße trete, ist die Gruppe davon geeilt. Jetzt muss ich die Lücke zulaufen. Aber seit ich Priscah Jeptoo beim New York Marathon gesehen habe, weiß ich ja, wie das geht. Man guckt entschlossen und wirft die Beine nach außen. Mit dieser Methode erreiche ich die Gruppe in kurzer Zeit wieder. Mein Freund, der Garmin Zeitmesser, ist derweil in einen Energiesparmodus gegangen und weigert sich, den Satelliten erneut zu finden. Als er sich dunkel erinnert, wo er eben noch war, habe ich einen Kilometer ohne ihn zurückgelegt. Ab jetzt muss ich ihn im Kopf immer ergänzen. High Tech ist doch ein enormer Fortschritt. Zwei ziemlich fröhliche Jungs haben sich an der Tankstelle erst mal Bier gekauft. Och jo.

Euch krieg ich!

Die Gruppe ist nun etwas größer geworden, die „Sprint L“ Kandidaten sind zu uns gestoßen. Ein Hauch von motivierter Frische durchweht das Feld. Wir freuen uns auch ohne Bier schon mal auf die nächste Verpflegungsstelle, die kurz hinter Kilometer 20 lauert. Bei Weilbach (km 15) ist Schluss mit dem Laufen auf Land- und Dorfstraßen, wir entern mit dem Regionalpark Rhein-Main eine beliebte Naherholungsstrecke, die sich an den Rheingau anwanzt und „Riesling, hier gibt’s Riesling!“ ruft. Es lässt sich hier wunderbar laufen, das Denken kann man getrost einstellen. Man folgt einfach nur dem Weg.

An der zweiten Verpflegungsstelle kralle ich mir eine Banane. Heute sehr früh am Morgen habe ich mir ein Porridge gemacht, das hat bis hierher fulminant vorgehalten. Aber jetzt, etwa bei km 20, könnte ich einen Hauch Zucker gebrauchen. Der angebotene Früchtetee hat keinen. Schon wieder muss ich mich mächtig beeilen – dass die aber auch so hetzen müssen … In Ruhe austrinken und weiter geht’s. Die Lücke ist dieses Mal nur klein, die ich zulaufen muss. Im letzten Drittel des Feldes läuft es sich ohnehin nicht schlecht. Sofern man nicht gerade die zahlreichen Mitglieder eines Vereins um sich hat, die erst hier gestartet sind und deshalb über mächtig viel Puste verfügen. Da man mit jedem Vereinsangehörigen gleichzeitig kommunizieren muss, wird aus allen Rohren geblökt. Unter den anderen, die bereits länger unterwegs sind, haben sich lockere Gesprächsgemeinschaften gebildet, die sich ruhig austauschen. Dazukommende glauben scheinbar, die trabende Gruppe erst einmal durch grölende Bierzelttumbheit und einen Wettbewerb im Schrill-Lachen aufmischen zu müssen. Ich versuche, die akustische Pest großräumig zu meiden.

Bei km 25,8 wartet schon die nächste Station auf uns. Für mich wird es jetzt anstrengend, aber das wusste ich vorher. Ich bin in diesem Jahr keine Strecke über Halbmarathon gelaufen. Jetzt muss es die Body-Memory richten, die längeres kennt. Zum Tee nehme ich jetzt einen steinharten, weil bereits abgelaufenen Gel-Chip. Etwas anderes hatte ich nicht mehr zuhause. Die Strecke wird nun endgültig flacher und einfacher. Immer wieder kommt die Gruppe wegen einer kleinen Pfütze ins Stocken, es ist ein bisschen wie der zähflüssige Verkehr auf Autobahnen, den man auch nie begreift. Wenn die Beine so ziepen, bleibe ich ungern stehen. Ab Kostheim kann man Mainz schon sehen. Aber es sind eben noch 4,631 km. Ich fange dennoch schon mal an, mich zu freuen. Denn das ist wirklich nicht mehr viel. Ich habe keine Blasen und größere Probleme, ich musste mich nicht in die 7er Gruppe zurückfallen lassen. Geregnet hat es nicht lange und nur mäßig. Ich bin gut durchgekommen, mein Trainingspartner ebenso. Soviel steht jetzt schon fest. Das beflügelt ein bisschen für die letzten Meter. Allerdings hat sich die Gruppe doch ziemlich auseinander gezogen und wir sind weit hinten. So kann ich nur leise hören, was beim Arque-Lauf immer ein besonderer Genuss ist: Beim Einlaufen über die Theodor-Heuss-Brücke nach Mainz wird die Landesgrenze zwischen Hessen und Rheinland-Pfalz überquert. Traditionell wird diese Tatsache mit dem Absingen des Rodgau Monotones Klassikers „Die Hesse komme!“ dokumentiert.

Nach der Brücke muss man sich kurz durch laufenden Verkehr kämpfen, dann geht es in den Fußgängerbereich der Innenstadt. Ich bin als hessische Pfälzerin oder pfälzische Hessin berührt. In Mainz bin ich geboren, es ist schön, hier einzulaufen und den Domplatz anzusteuern, auch wenn ich jetzt wie Falschgeld zwischen den Sonntagspassanten und Fußballfans hindurchspringe. Als ich auf den Domplatz einbiege, riecht es komisch und ich weiß schon jetzt, warum. Unzählige 5-Minuten-Terrinen sind hier löffelbereit. Nach 3:45 h ist das Ziel erreicht. Jetzt muss es schnell gehen: Der geneigte Läufer braucht trockene Sachen gegen die Auskühlung. In den Zelten wurden die Taschen gelagert, hier wurschteln sich alle irgendwie zurecht. Trocken und warm eingepackt lässt sich das angebotene Buffet auch viel besser würdigen: Cola, Tee, Wasser, Schorle, Bananen und die legendäre miefende 5-Minuten-Terrine. Ich wähle einen Kartoffelbrei, der sich auch ohne große Beteiligung der Kiefermuskulatur mühelos bewältigen lässt. So einen Quatsch esse ich wirklich nur hier, aber es tut sehr gut. Noch schnell ein alkoholfreies Weizen gebunkert und dann nichts wie zum Bus.

Die Fahrt zurück dauert eine gefühlte Ewigkeit, aber auch das hat Tradition. Wir sind schließlich ja auch weit gelaufen.


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6 Kommentare

  1. Ich glaube auch, dass es mit Kommunikation zu tun hat, wenn ich deine ganzen Bemerkungen zum „Blöken“ richtig verstanden habe ;-)Viele Grüße,Das Pulsmesser

  2. Blöksound ist ja kein Grund, um nicht mitzulaufen. Man kann dem ja immer wieder entgehen. 🙂

  3. ich glaube ehrlich gesagt nicht, daß die schwindenden Teilnehmerzahlen was mit Kommunikation zu tun haben. Sondern eher damit, daß die Frankfurt-Marathon-Läufer früher gerne zwei Wochen später nochmal auslaufen gingen und sich heute viele nicht mehr vorstellen können, zwei Wochen nach einem Marathon nochmal 34 km zu laufen. Das hat dann wieder Zeit bis ins Frühjahr. Und die, die sich das vorstellen können, laufen dann lieber für die Statistik gleich nen ganzen Marathon und nicht 8 km weniger. Das ist so meine Theorie. Gruß Gabi

  4. Hey, danke für den Bericht. Die Kommunikationskritik nehmen wir uns zu Herzen, aber wie schon geschrieben ist es schwer, unser großes Angebot an unterschiedlichen Strecken rüberzubringen. Für Anregungen sind wir da sehr dankbar… Der Ur-ARQUE-Lauf fand übrigens am Silvestermorgen 1988 statt. Ach ja, da die Abkürzung ARQUE für ‚ARbeitsgemeinschaft für QUErschnittgelähmte‘, sprechen wir es ‚Arkwe‘ aus. Fun Fact: Regelmässig erreichen uns im Mainzer Büro Anrufe von Leuten, die Ihr Arbeitslosengeld von uns wollen – die denken, sie sind bei der ARGE gelandet…Liebe GrüßeO. PfleidererGeschäftsführer ARQUE e.V. Webmaster ARQUE-Lauf

  5. Liebe Frau Schmitt,vielen Dank für den netten Bericht – da wird mir richtig warm um’s Herz.Anfangs (ab 1996) hat mich der späte Zeitpunkt auch gestört, aber inzwischen bin ich froh, den Arquelauf nach der oft anstrengenden Herbstsaison als entspanntes „Austrudeln im Babbeltempo“ nutzen zu können.Unabhängig vom Termin ist die Veranstaltung mit allen Beteiligten drumherum absolut empfehlenswert!!!Marita Brenk (Westerwald)

  6. This was the first time I had ever ran as a group and in this run. I come from Scotland and I would like to say how amazingly good this run was. People were incredibly friendly and I enjoyed it immensely. The only down side was getting to the starting point in Florsheim and from the finish point to the Bahnhof…..no shuttle buses for that part. Maybe if the organisers could look at this, then maybe next year more runners would be interested in starting at the other start points.

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