Ein Inuit kennt 400 verschiedene Wörter für Schnee. Das steht im Internet, also muss es stimmen. Leider steht auch im Internet, dass es nicht stimmt und wenn das wiederum stimmt, dann würde es ja bedeuten, dass es doch nicht stimmt. Im Dunkeln des Kellers eines geistig zerrütteten Forschers liegt auch die Frage, wie viele Wörter die Egelsbacher für Schnee kennen. Und ob es in Egelsbach überhaupt schneit. Wir lassen die Frage dort unberührt liegen und wenden uns lieber dem Thema „Regen“ zu. Tatsache ist, auch wenn es noch nicht im Internet steht, dass der Volksläufer des Jahres 2013 mit diversen, auch seltenen und längst totgeglaubten Farben und Formen des Regens vertraut werden konnte. Da jedoch die wenigsten Sprachwissenschaftler volkslaufen, gibt es über die Terminologie in der Nassforschung noch Streitigkeiten. Ich möchte diese Stelle nutzen, um ein wenig Klarheit ins Trübe zu bringen. Als Musterexempel soll mir dafür der „Koberstädter Waldmarathon“ in Egelsbach dienen, der sich hervorragend zur vielfältigen Regenbestimmung eignet.
Gleichzeitig beginnt sich die erste Form des Regens im Läuferfeld anzusiedeln. Es handelt sich dabei um so genannten Clementinischen Regen, benannt nach einer Waschmittelwerbefigur der 1970er Jahre.
Beim Start des Halbmarathons, den ich heute absolvieren will, wird offenbar, dass ich etwas Wichtiges vergessen habe. Ich habe verabsäumt, mir heute Nacht um drei den Wecker zu stellen, um meine Garmin Uhr auf Satellitensuche zu schicken. So eine Fahndung nach Objekten im Weltraum ist nichts, was die Uhr mal eben kurz vorm Start erledigen kann, sie braucht dafür Zeit, Ruhe und Muße. Und vor allem: Sie kann nicht, wenn jemand guckt. Dann fühlt sie sich gehetzt und beobachtet. Nun aber soll die Uhr drei Minuten vor dem Start einen Satelliten finden – absurd! So ein Satellit kreist in 20.200 km Höhe um die Erde, wie soll das denn gehen! Und dann dauernd diese aufdringlichen Blicke auf das Display! So kann der Garmin nicht arbeiten. Der Startschuss fällt, die Zeit läuft, die Uhr nicht.
Gleichzeitig beginnt sich die erste Form des Regens im Läuferfeld anzusiedeln. Es handelt sich dabei um so genannten Clementinischen Regen, benannt nach einer Waschmittelwerbefigur der 1970er Jahre. Den Clementinischen Regen gibt es beim Vorwaschen und beim Hauptwaschen, denn er ist sehr gut geeignet, alles, was ihm unter die Tropfen kommt, erst einmal einzuweichen. Er ist durchdringend und allumfassend. Nach drei Minuten sind wir komplett durchnässt. Während der Regen ganze Arbeit leistet, ist der Garmin noch immer nicht ganz bei sich. So plötzlich ist ein Start mit ihm nicht zu machen. Unter dicken Tropfen auf dem Uhrglas schiebt sich ein Ladebalken wankelmütig nach vorne und wieder zurück. Erst kurz vor dem ersten Kilometerschild zeigt die Uhr, dass sie jetzt bereit wäre. Wenn es denn unbedingt sein müsste.
Danach jedoch entsteht ein unaufdringlicher Sprachfehlerregen, der leicht und luftig daher kommt, als würden himmlische Heerscharen mit massivem S-Fehler durch „Super!“-Rufe die Anfeuerung übernehmen.
Das Feld im Wald macht einen wenig ambitionierten Eindruck. Vielleicht liegt es daran, dass wir relativ weit hinten laufen, vielleicht am himmlischen „Pflegeleicht“-Programm. Wir sind ebenfalls nicht gerade übertrieben ehrgeizig. Wer mit einer Zahnfleischentzündung kämpft, sollte sich mit Höchstleistungen besser zurückhalten, ich nehme das Ganze eher als Trainingslauf. Beim 35-jährigen Jubiläum in Egelsbach zu fehlen, wäre keine schöne Alternative gewesen. Wenn man gemütlich läuft, entdeckt man auch eher die Schönheiten der Strecke. Eine Bestimmung unterschiedlicher Grüntöne wäre hier ebenfalls denkbar gewesen. Der Wald dampft und wird gerade gründlich durchsaftet. Der Clementinische Regen hat sich inzwischen in eine Phase des sogenannten Perlenvorhangregens gewandelt, der ein Erscheinungsbild entwickelt, wie man es von Hinterzimmerabtrennungen muffiger Antiquariate kennt. Wenn man gut darauf achtet, kann man es beim Durchlaufen sogar klickern hören. Der Perlenvorhangregen ist recht dicht. Danach jedoch entsteht ein unaufdringlicher Sprachfehlerregen, der leicht und luftig daher kommt, als würden himmlische Heerscharen mit massivem S-Fehler durch „Super!“-Rufe die Anfeuerung übernehmen.
Wir laufen im 6er Schnitt und fühlen uns kommod. Auf einen Drink bei km 5 haben wir verzichtet, man rief „Wasser!“, und wir fanden, dass Schuhe, Socken und Kleidung bereits genügend davon aufgenommen haben. Zur inneren Anwendung sind wir noch nicht bereit. Es dauert gar nicht lange, bis die ersten Marathonläufer an uns vorbei eilen, die lange vor uns gestartet sind und zwei Runden absolvieren müssen. Man hat sie ohne ein Führungsfahrrad auf die Strecke geschickt und die armen Jungs müssen sich nun durch die ganzen nassen Säcke und Säckinnen schieben. Schön ist das nicht. Besonders wenn solche Läufer überholt werden müssen, die am inzwischen weit verbreiteten Ohrenpilz leiden. Bei diesem Gebrechen, dem auch durch Fungizide nur sehr schwer beizukommen ist, sind die Ohren von einem trommelfellverstopfenden Pilz befallen. Er ist von außen deutlich zu erkennen durch sein lang gezogenes Myzel, das bis an die Taille reichen kann. Läufer mit Ohrenpilz können von hinten kommende schnelle Läufer nicht hören. Oft breitet sich die Erkrankung bis ins Gehirn aus und befällt dort vor allem Areale, die die Reaktionsfähigkeit steuern. Macht man solche Läufer etwa durch lautes Rufen darauf aufmerksam, dass Platzbedarf besteht, reagieren sie durch ihre eingeschränkten Fähigkeiten faultiergleich oder auch gar nicht. Da sich der Ohrenpilz inzwischen in Läuferkreisen, aber auch Läuferquadraten epidemiologisch ausgebreitet hat, haben die Marathonläufer in Egelsbach kein einfaches Leben.
Der L’oréal-Regen wird abgelöst durch den Trinkflaschenregen, ein Niederschlag, der ähnlich fein daherkommt, wie wenn man den Nippel einer Sporttrinkflasche anhebt und sich darin etwas Kohlensäurehaltiges befindet.
Während wir unverpilzt weiter laufen, schließt sich ein L’oréal-Regen an. Er wird so genannt, weil er in der Lage ist, selbst wasserfeste dekorative Kosmetik mühelos hinweg zu spülen. Das setzt eine gewisse Intensität voraus, die eine porentiefe Wirkung hat. L’oréal-Regen erfordert häufiges über die Augen Wischen und das Hinwegpusten an der Nase baumelnder Regentropfen. Er hat eine geringere Tropfen-Frequenz, aber eine deutlichere Tropfen-Größe als der Clementinische Regen. Der L’oréal-Regen wird abgelöst durch den Trinkflaschenregen, ein Niederschlag, der ähnlich fein daherkommt, wie wenn man den Nippel einer Sporttrinkflasche anhebt und sich darin etwas Kohlensäurehaltiges befindet. Er ist gleichwohl flächendeckend.
Wir haben inzwischen über die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht und fühlen uns munter. Besonders die letzte Regensorte ist recht angenehm und sorgt für irisches Lebensgefühl. Das wird allerdings gestört durch deutsch sprechende Menschen hinter uns, die eine typische und lautstarke Läuferkonversation führen. Sie berichten sich gegenseitig darüber, warum und wie und wozu sie jetzt hier und heute laufen. Und natürlich darf auch die übliche Tiefstapelei nicht fehlen, sowie der Überblick über vergangene und zukünftige Laufprojekte. Es ist eines dieser bohrend langweiligen Gespräche, an denen Läufer stets gern mit leuchtenden Augen teilnehmen. Es hallt im Wald. Und hört nicht auf. Es sind diese Momente, in denen man sogar dankbar wäre, an einem Ohrenpilz erkrankt zu sein. „Der einzige Grund, heute hier nicht anzutreten“, sagt einer der Talkmaster, „wäre, wenn das Wetter richtig blöd gewesen wäre.“ Während mir einige Tropfen von meinem Pony, der seine Aufnahmekapazität schon längst überschritten hat, ins Gesicht stürzen, denke ich darüber nach, was „richtig blödes Wetter“ sein könnte. Vielleicht ein Meteoritenhagel. Die Talkshow kommt näher, zieht aber nicht vorbei. Zum Glück kommt jetzt ein Getränkestand, ein kleines Päuschen wird hoffentlich den Abstand wieder erhöhen.
Der Gnadenregen ist so wasserreich und laut, dass dahinterliegende Gespräche unverständlich werden.
Der Wald sieht jetzt so ehrwürdig aus, dass man ihn nur noch als Forst bezeichnen sollte, vielleicht wäre „Herr Professor Forst“ sogar noch angemessener. Es sind im Grunde nur Bäume, aber in ihrer Menge übertreffen sie doch das Läuferfeld bei weitem und das ist mit vielen hundert Läufern schon recht imposant. Aber eine derart stoische Ruhe ist Läufern nun mal nicht eigen, auch sind Bäume Läufern in der Aufnahme von Regenwasser überlegen. Und es gäbe sicher noch viele weitere gute Pflanzeneigenschaften, die die Wahl zwischen Mensch und Baum zuweilen knifflig werden lässt. Zu den herausragenden Charakteristika von Bäumen gehört, dass sie während eines Volkslaufs nicht sprechen, nicht einmal mit gedämpfter Rinde oder hinter vorgehaltenem Blatt. Ich bin nun wieder auf die Talkshow aufgelaufen und muss mich entscheiden. Zurückfallen lassen oder Gas geben und abhauen. Ich muss es versuchen. Ich ziehe an. Es gelingt mir zunächst nur, mich ein wenig abzusetzen – dann aber setzt der sogenannte Gnadenregen ein. Der Gnadenregen ist so wasserreich und laut, dass dahinterliegende Gespräche unverständlich werden. Es prasselt auf uns hernieder und der Waldboden ist langsam hackedicht und sternhagelvoll. Es geht einfach nichts mehr rein. Langsam wird es pfützig.
Ich bin ganz froh, dass der Gnadenregen jetzt in Treibregen übergeht, das ist die Sorte Schauer, die bei Läufern für eine Beschleunigung sorgt, um einer derartigen Sauerei nur möglichst kurz ausgesetzt zu sein. Nach einer kurzen Treibregenphase folgt eine besondere Regenform, die ich bereits vom diesjährigen Volkslauf in Wiesbaden-Naurod kenne. Es handelt sich dabei um Scheißregen (lat. pluvia merda), eine Regenform, die häufig nach mehreren Stunden Laufen bei unterschiedlichsten Regenarten auftritt. Sie gibt mir den Rest und die Sporen. Ich will ins Stadion. Zur unvergleichlichen Egelsbacher Pepsi, ein Getränk, das ich nur einmal im Jahr, hier, zu mir nehme. Ich will trockenen Kuchen und ebenso trockene Kleidung. Ich laufe los. Den letzten Kilometer absolviere ich entschlossen in 4:43.
Normalerweise regnet es beim Koberstädter Waldmarathon in Egelsbach bestenfalls, wenn man das Ziel bereits erreicht hat, das ist dann der so genannte Heringhaus-Schauer, benannt nach dem wetterfesten Stadionmoderator Jochen Heringhaus. In diesem Jahr könnte man also umgekehrt darauf hoffen, dass sich der Himmel nach Zielankunft verschließt. Doch es regnet einfach weiter. Dieser Regen hat keinen Namen. Ich nenne ihn den Nicht-Aufregen, weil nichts nutzloser ist, als sich über das Wetter zu ärgern. Viel besser ist es, darunter und dazwischen durchzulaufen, als wär nichts. Alles weitere überlasse ich der Forschung.
Titelbild © sourabhkrishna806 – pixabay
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15 Kommentare
Das auf dem Foto ist aber wieder keine Pepsi…
Die Pepsi hatte ich gleich im Ziel. Mehrere Becher! Aber da hatte ich keinen Fotoapparat zur Hand. 😉
Nicht mal Streuselkuchen im Ziel … 🙁 Aber wenigstens Nicht-Aufregen, der spült alles weg!
Regen bringt Segen. Und herrlich erfrischende Laufberichte mit wahrhaft himmlischen Ergüssen. In jeder Hinsicht. Vielen Dank Frau Schmitt, beim nächsten Lauf bei Sauigel-Wetter werde ich mich jetzt weniger über das Nass ärgern und versuchen die richtige Kategorie für die feuchten Grüsse von oben zu definieren. Grüssle Klaus
Haha – also ich musste mehrmals Schmunzeln bei diesem Beitrag! Besonders der L’oréal Regen gefällt mir 🙂 Treibregen bräuchte man wohl öfters mal!Liebe GrüsseAriana
Ich bin beim Lesen fast aus dem Bett gefallen vor lachen… Ich konnte jeden Satz beim Lesen spüren und die einzelnen Regenergüsse nochmal virtuell wahrnehmen… Spitzen Beitrag mit Charme, Hirn und heiterem Verstand… Trockene Grüsse nach einem echt nassen Tag Sandro
Was wären wir Läufer doch arme Schweine, gäbe es kein Wetter. Das muss man sich mal vorstellen es wäre immer die 100% richtige Läufertemperatur, ohne Wind, Regen, Kälte und Co. … keine Sau würde jemals auf die Idee kommen die unterschiedlichen Regenarten sauber zu kartografieren und für die Nachwelt zu dokumentieren.Wenn man das nicht macht, sieht man ja an den Eskimos, bleiben nur noch Legenden. Einen Großteil der hier geschilderten Regen hab ich gestern auch erlebt, aber wichtig ist nur einer … der Nicht-Aufregen … bringt ja eh nix 😉
Wieder mal ein schöner Bericht.Ich hatte die ganze Woche geschwankt zwischen Egelsbach und Simmern. Der Regenradar hat dann für Simmern ausgeschlagen und dort konnte ich trockenen Fusses einen schönen Trainingsmarathon laufen – aber irgendwann muss ich auch mal nach Egelsbach.
und wieder ein toller bericht! danke für die kurzweilige mittagspause, in der ich gerne mal deine berichte lese … und der ohrpilz hats ebenso in sich, auf dem rad sind die auch schon weit verbreitet, wenn man dran vorbei will, kann man klingeln und rufen und rufen und klingeln, da tut sich auch nixxxx … da hilft dann auch nur irgendwie dranvorbeimogeln …entspanntes weiterlaufen, egal wie das wetter wird, wünscht dir claudia
Ich hab herzhaft gelacht!Eine wohl unbeabsichtigte Nebenwirkung des Textes ist der nun in mir aufflammende Wunsch, es möge beim nächsten Lauf mal regnen. 🙂 So ein Nicht-Aufregen, gefolgt von einem leichten Abregen, kann ja nur hilfreich sein. Du machst mir Hoffnung!Einen schönen Sonntag wünsche ich dir noch,Irini
Pingback: Sport und Fitnessblogs am Sonntag 01.09.2013
Herrlich geschrieben! Ich fang jetzt gleich noch mal von vorn an, den der pluvia merda hat in meinem Kurzzeitgedächtnis die übrigen Regenarten mal eben überschrieben…
Hallo Frau Schmitt,wie eigentlich immer, ein wunderbar geschriebener Bericht. Habe mich köstlich amüsiert.Aber zwei Fragen bleiben: 1. Wie schafft man es, so locker und fröhlich auf einem Lauffoto auszusehen und trotzdem schwung-und elanvoll zu wirken?Mir ist das noch nie gelungen.2. Warum um alles in der Welt, trägt du bei so einem Sauwetter eine Sonnenbrille auf dem Kopf spazieren? (Sieht man übrigens sehr häufig auch bei schönem Wetter und auch da verstehe ich es nicht. Entweder vor den Augen oder gar nicht.)Bitte klär mich auf.Ansonsten freue ich mich schon auf weitere genussvolle Laufberichte.Liebe GrüßeHedgehog
Lieber Hedgehog,Dein Kommentar hat sich versteckt! Aber jetzt ist er doch aufgetaucht. Zu Deinen Fragen: 1. Man muss darauf achten, auf möglichst vielen Fotos aufzutauchen. Dann kann man jene zur Seite legen, auf denen man aussieht wie ein verhärmter ukrainischer Ringer nach einer missglückten Geschlechtsumwandlung und kann sich den schwungvoll Lockeren zuwenden. Wenn man Pech hat, gibt es nur Fotos der ersten Sorte, dann hüllt man sich besser in Schweigen und postet nichts. 2. Die Sonnenbrille ist so etwas wie ein Glücksbringer. Sie ist sehr leicht, ich bemerke sie überhaupt nicht. Manchmal klappe ich sie runter wie ein Visier, wenn es plötzlich fies hell wird, im Wald kann ich aber drauf verzichten, dann lasse ich sie oben. Für den Fall der Fälle ist sie eben immer da. Gelegentlich vergesse ich zuhause das Etui, dann ist sie auf dem Kopf am sichersten ohne Kratzergefahr aufgehoben. So war’s auch in Egelsbach.Liebe GrüßeHeidi
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