Der Halbmarathon in Nidderau-Eichen (2007)
Nidderau-Eichen zu finden ist ganz einfach: man fährt Richtung Nidderau, wird an einer Abzweigung umgeleitet, verliert den Weg, fährt durch niegekannte Ortschaften, fragt an einer Tankstelle, von wo aus einen jemand zu einer weiteren Tankstelle leitet, an der man seine Orientierung wiederfindet. Ab da ist sowieso alles ganz problemlos.
Ich trete heute an zu einem leicht hügeligen Halbmarathon im Wald. Die Strecke ist mir gut bekannt und es könnte fast ein wenig langweilig werden, wenn ich heute nicht eine besondere Aufgabe hätte: ich bin Hase. Oder nobler ausgedrückt: Brems- und Zugläuferin. Der mich zum Bremsen und Ziehen engagiert hat, ist ein erfahrener Läufer, der sich allerdings erst wieder an lange Strecken herantrainiert. Deshalb wollen wir einen ruhigen Lauf um die 2:15h versuchen.
Vor Ort schallt die berühmte Nidderauer Muntermachmusik aus den Lautsprechern und wir träumen ein wenig von einer CD-Zusammenstellung, die „Best of German Volkslauf“ heißt. Cyndie Lauper wäre dabei, Right Said Fred und Status Quo und Songs wie „Final Countdown“, „Sunshine Reggae“, oder „Wake me up before you gogo“. Und ohne „Holding out for a hero“ von Bonnie Tyler trete praktisch schon gar nicht mehr an. Vermutlich gibt es diese Platte längst und sie wurde kostenlos unter Sportvereinen und Feuerwehren verteilt. Deshalb hört man das alles so oft – ob man will oder nicht.
In diesem Jahr gibt es in dem kleinen Gebäude, in dem man sich umzieht, einen „VIP-Bereich“. Wir warten also gespannt auf Paul Tergat oder wenigstens auf jemanden, der mal wieder etwas Geld und gute Worte braucht, wie z.B. Tegla Loroupe. Aber man erzählt uns, dass der VIP-Bereich für die „Sponsoren“ gedacht ist, womit vermutlich Repräsentanten des örtlichen Autohauses oder Brillengeschäfts gemeint sind. Schade eigentlich. Die Damenumkleide ist allerdings dann auch ein bisschen exklusiv, denn es ist sehr wenig los. Genau genommen, bin ich zunächst die einzige, die sich dort ausbreitet.
Nachdem uns der freundliche Herr am Mikro seine Begrüßung vorgelesen hat („Für’s leibliche Wohl – sprich Speisen und Getränke – ist gesorgt“), wollen wir uns warmlaufen. Das gestaltet sich wenig erbaulich, denn die übliche Einlaufstrecke ins Feld ist versumpft. Der Regen der letzten Tage hat Spuren hinterlassen und es riecht seltsam. Mitten auf dem Weg liegt eine mausetote Ratte und in der riesigen Pfütze tummeln sich schwimmend dunkelbraune, regenwurmartige Tiere, die mir zutiefst unsympathisch sind, vermutlich, weil ich nicht weiß, wie sie heißen. Wir schütteln uns ein bisschen und drehen um. Ein Omen? Wer weiß.
Das Feld ist klein. Wir wollen uns hinten anstellen, aber es gibt kaum ein Hinten. Etwa 150 Läufer gehen beim Halbmarathon an den Start. Zunächst zischelt man noch ein wenig durch den Ort und dann geht’s ab in den Wald. Weil ich Hase bin, muss ich dauernd an „Hase und Igel“ denken, vermutlich eine frühkindliche Prägung. Zunächst läuft alles nach Plan. Beim ersten Kilometerschild stelle ich fest, dass wir unser Tempo perfekt getroffen haben und ich bin erfreut. Man hat ja Verantwortung als Hase. Der Igel nimmt’s gelassen und plaudert ein bisschen. Allmählich gibt es im Feld ein deutliches hinten und vorne, was aber dadurch aufgemischt wird, dass jetzt die 10km-Läufer kommen. Die Armen müssen sich durch das ganze Halbmarathonfeld wurschteln, weil sie mit nur 5 Minuten Verzögerung auf der gleichen Strecke gestartet sind. Für uns hat das den Vorteil eines hübschen Unterhaltungsprogramms. Schnaufende junge Männer mit langen Beinen hechten an uns vorbei.
Nach wenigen Kilometern muss ich mal. Normalerweise muss ich beim Laufen nie mal, aber dieses ungewohnte Tempo bringt alles ein bisschen durcheinander. Vielleicht schwitze ich sonst alles raus. Ich springe hinter einen Holzstapel und danach geht es mir besser. Es ist ruhig geworden auf der Strecke. Wir kommen an einer Vogelhäuschenkolonie mit Hausnummern (oder heißt es Häuschennummern?) vorbei und malen uns die nachbarschaftlichen Gespräche der Bewohner aus. Da unsere gedachten Vögel hessisch sprechen, haben wir viel Spaß.
An jedem Getränkestand hält man uns mindestens fünf Becher entgegen – man wartet mit großem Einsatz auf uns.
Besorgt schaue ich auf die Uhr. Die 2:15 sind praktisch schon kaum noch zu machen. Bei Kilometer 10 liegen wir bei 65 Minuten. Das ist zu langsam, aber der Igel mag nicht hetzen. Eine Verletzung an der Igelschulter bringt sich schmerzhaft in Erinnerung und lässt uns weiter zurückfallen. Es wird ruhiger um uns herum und immer öfter geraten die anderen Läufer außer Sichtweite. An jedem Getränkestand hält man uns mindestens fünf Becher entgegen – man wartet mit großem Einsatz auf uns. Ein paar Kilometer später fragt man uns undiplomatisch, ob wir die letzten sind, aber wir wissen es nicht, obwohl uns gelegentlich ein Verdacht in diese Richtung beschleicht.
Schließlich gibt der Igel den Hasen frei, das Zeitziel ist aufgegeben. Ich hadere mit mir. Soll ich jetzt Gas geben und mich auf den letzten Kilometern noch einmal austoben? Das Einsammeln von Läufern, die vorher an uns vorbeigezogen sind, könnte ziemlich Spaß machen. Eine gute Zeit wird es aber für mich nicht mehr geben. Oder soll ich dem Igel Gesellschaft leisten? Wenn wir tatsächlich die Letzten sind, wäre es vermutlich doof, allein am Ende des Feldes zurückzubleiben. Nerve ich oder kann ich für Unterhaltung und Erbauung sorgen? Als Hase, der keiner mehr ist, weiß ich noch nicht, was ich stattdessen bin.
Während hinter uns die Kilometer-Schilder abgebaut werden, beschließe ich, einfach bei diesem Tempo zu bleiben.
Dann taucht ein Feuerwehrwagen hinter uns auf und beseitigt letzte Zweifel: wir sind der würdige Abschluss dieses Laufs. Beim „Two Oceans Ultramarathon“ in Südafrika bekämen wir dafür die „John Masureik Floating Trophy“. Wenn mein Trainingspartner, der inzwischen längst im Ziel ist, an uns denkt und uns mitversorgt, könnte es noch für den „Nidderau-Eichen Floating Streuselkuchen“ reichen. Schlecht ist das nicht. Während hinter uns die Kilometer-Schilder abgebaut werden, beschließe ich, einfach bei diesem Tempo zu bleiben. Wann bekommt man schon einmal die Chance, Letzte zu werden? Wann warten schon alle auf einen und spenden extra Applaus und Zuspruch? Wir lehnen eine Mitfahrgelegenheit im Feuerwehrauto dankend ab (hatten wir etwa den Daumen draußen?), genießen das letzte Stück Waldweg und schlumpfen locker ins Ziel.
Die Uhr zeigt 2:28. Mit dieser Zeit hätten wir beim Frankfurter Halbmarathon etwa 60 Läuferinnen und Läufer hinter uns gelassen. Es ist eben alles relativ. Und weil Zahlen Schall und Rauch sind, schaffe ich an diesem Tag gleich noch ein Kunststück: ich werde Letzte und gleichzeitig Dritte meiner Altersklasse. Die Siegerehrung verhallt im goldgelben Hefeteig eines Streuselkuchens.
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