Der Halbmarathon in Mühlheim-Dietesheim (2007)
Vor Mühlheim-Dietesheim sollte ich nichts Schweres essen. Während ich über diesen Satz nachdenke, fällt mir auf, dass Läufer Ortsnamen nicht geografisch, sondern zeitlich benutzen. Es ist damit keineswegs der Ort, sondern eine Laufveranstaltung an diesem Ort, bzw. der Tag dieser Veranstaltung gemeint. Wer also beschließt: „Vor Biel muss ich mir unbedingt noch die Zehennägel schneiden.“ beabsichtigt damit keineswegs, unmittelbar vor dem Ortsschild mit einem Nagelknipser in die Hocke zu gehen. Es ist völlig unerheblich, ob die Prozedur innerhalb oder außerhalb Biels stattfindet, Hauptsache, sie passiert „vor Biel“. Läufersprache. Vielleicht sollte man den Text von „Wir lagen vor Madagaskar“ unter diesem Aspekt noch einmal beleuchten. Möglicherweise ist damit ja der Madagaskar-Marathon gemeint.
Vor Mühlheim-Dietesheim jedenfalls sollte ich nichts Schweres essen. Ein grummelndes Gekröse würde mich nur an einen meiner schlimmsten Läufe erinnern. Vor Jahren lief ich hier (unwissentlich) mit einem Magen-Darm Virus und quälte mich beim Lauf entsetzlich. Deshalb bin ich dieses Mal extrem vorsichtig: am Vorabend kaufe ich mir auf einem Stadtteilfest an einem Stand, der „Mama Afrika“ heißt, mein Abendessen – Couscous mit Erdnussbuttersauce, in der große Kohlstücke schwimmen. Leichtverdauliches eben. Was wäre das Leben ohne Widersprüche.
Die Anfahrt zum Sportplatz überspringe ich, wer die Industriegebiete hinter Offenbach kennt, weiß warum. Der Lauf ist in zweierlei Hinsicht etwas Besonderes: 1. Es ist ein Jubiläumslauf (35 Jahre Volkslauf Mühlheim) und 2. Es ist ein Benefizlauf für die Familie eines Vereinssportlers, der bei einem Triathlon einen Herzinfarkt erlitt und seither im Wachkoma liegt. Darum kann man ausnahmsweise mehrere Startnummern kaufen. Eine gute Idee.
Mein Trainingspartner und ich laufen uns großräumig ein und begutachten dabei die Vereinsheime des Anglervereins, der Kaninchenzüchter, des Teckel-Clubs und der Gebrauchshundefreunde. Es ist schwer was los in Dietesheim. Neben alledem ruht still ein See. Ein Jammer, dass wir nicht zum Picknicken hier sind. Obwohl – dafür wäre es ohnehin zu kühl. Zum Laufen hingegen ist das Wetter perfekt. Ich fühle mich gut. Gegen die Auswirkungen des Kohls von „Mama Afrika“ habe ich heute Nacht Kräutertropfen eingenommen, in der die „bittere Schleifenblume“ (Iberis amara) enthalten ist. Das klingt so ungeheuer heilkräftig, dass ich jeden kulinarischen Fehlgriff sofort vergesse.
Die Strecke ist hübsch, abwechslungsreich und schnell. Und das, obwohl es gelegentlich ein bisschen bergauf geht. Der Vorteil beginnt schon beim Start: 2 ½ Runden legt man im Stadion zurück. Dabei laufen viele zu schnell – und so hat man die ehrgeizigen Jungs erst einmal aus den Füßen. Das Feld zieht sich sofort auseinander und jeder findet darin sein Plätzchen, ohne über Grasnarben zu stolpern und in die Brennessel zu springen. Wenn alle dann auf die „richtige“ Strecke gehen, ist die größte Unruhe vorüber. Wir atmen den dampfenden Dung auf dem Feld und freuen uns unseres Läuferlebens. Schon bald habe ich einen Begleiter, der das macht, was viele (junge) Männer machen: er wehrt sich gegen das Überholtwerden von einem Mädchen. Andere ziehen an ihm vorbei – ich darf nicht. Lieber legt er einen kleinen Zwischenspurt ein. Ein Hin- und Her hat gar keinen Sinn und so beschließe ich, meinen Widersacher zu mögen. Irgendwie zieht er mich ja auch.
Die ersten Kilometer waren pfeilschnell und ich fühle mich prima. Außerdem ist mir heute nach Schicksalsgemeinschaft. Bei Kilometer 9 bin ich allerdings das Zugpferd: hier beginnt eine lange breite Bergabpassage auf Asphalt. Ein echtes Läufergeschenk und schöne Geschenke nehme ich immer überschwänglich an. Es läuft. Auch für den Schwertritt-Indianer, der jetzt an uns vorbeizieht. Neulich habe ich gelesen, dass es eine Maßeinheit für Geruch gibt. Er wird in „Olf“ gemessen. Ein Olf ist die Geruchsstärke, die von einem Normmenschen mit 0,7 Bädern am Tag, 1,8 qm Hautoberfläche und sitzender Tätigkeit ausgeht. Für einen Läufer nach dem Lauf kann man durchaus schon einmal 30 Olf veranschlagen. Der Herr vom Schwertritt-Stamm rumpelt nun allerdings mit gefühlten 86 Olf neben uns her. Ich atme nach der anderen Seite, und hoffe, dass es und er bald vorbei sind. Bisher dachte ich, nur der Stöhnläufer, der seine Transpiration mit einem kleinen Gästehandtuch auffängt, das er vorne in der Hose trägt, wäre zu einer solchen Olf-Stärke fähig. Sieh an, er hat einen Bruder.
Mein Begleiter und ich sausen unverdrossen weiter. Die 10km haben wir in einer 50er Zeit hinter uns gebracht und alles sieht gut aus. Der Belag wechselt, man lernt alle Farben und Formen des Waldbodens kennen. Später erfahre ich, dass irgendwo im Wald ein Hornissen-Nest hing und einige Läufer von den Summern angegriffen wurden. Ich sehe und merke davon nichts, zu groß ist meine Konzentration darauf, die Geschwin- digkeit zu halten. Plötzlich flüstert es hinter mir. Ich verstehe nur ein Wort: „Laufen“. Jemand flüstert unablässig irgendetwas vor sich hin, was mit „Laufen“ zu tun hat. Das Flüstern kommt näher und läuft schließlich an uns vorbei. Eine junge Frau, total verkabelt und verstöpselt wispert sich nach vorne. Mein Begleiter und ich schauen uns an. „Anscheinend hilft’s“ sage ich und wir sehen der Dame ratlos hinterher, die nun leise anfängt, seltsame Melodien zu singen. Die Methode mag schnell machen, aber es wirkt, als hätte ihr das Laufen den armen Verstand zerrüttet.
So sehr es ihr half, so sehr hat es meinen Begleiter demoralisiert. Drei Kilometer vor dem Ziel sagt er „Ich verabschiede mich hier“ und fällt zurück. Gern wäre ich mit ihm ins Ziel gekommen (wenn er sich schon nicht überholen lässt …), aber ich weiß auch, wie es ist, wenn nichts mehr geht. Da kann man nichts machen. Kurz vor dem Stadion steht ein Bekannter und läutet symbolisch die letzte Runde ein. So macht der Zieleinlauf natürlich noch mehr Spaß. Meine Uhr stoppe ich bei 1:45:57. Es ging verblüffend leicht. Aber es war nicht nur mein Tag: mein Trainingspartner schlürft schon länger an seinem Red-Bull Becher als ich ins Ziel komme und die Kollegin, die letzte Woche noch eine Halbmarathon-Debütantin war, ist diese Woche schon eine „Unter-1:50-Läuferin“ geworden. Ob’s an Dietesheim liegt?
Zum Belohnungskuchen gibt es zwar zunächst keinen Belohnungskaffee („Der läuft noch dorsch!“), dafür aber ein Kleinkunstprogramm in Form einer Siegerehrung.
Als neben einem großartigen Moderator auch noch der Bürgermeister ins Spiel kommt, fühlt man sich an den Blauen Bock erinnert – einzig die Bembelübergabe fehlt. Es „hesselt“ hinter dem Mikro. Wir fühlen uns gut unterhalten und sitzen heldenhaft auf den Bänken.
Vielleicht sollte ich „vor Neu-Isenburg“ wieder die Tropfen mit der „Bitteren Schleifenblume“ nehmen. Jetzt freuen sich meine 1,8 qm Hautoberfläche aber erst mal auf mein 0,7 Bad am Tag.
Titelbild © Bittere Schlefenblume (Iberis amara) Jan Kops, Public Domain, über Wikimedia Commons
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