Der Hugenottenlauf in Neu-Isenburg (2007)
Wer als Nichtläufer Laufberichte liest, kommt oft ins Staunen. Ein vierwöchiger Aufenthalt in einem tibetischen Kloster scheint nichts zu sein, gegen den spirituellen Wert eines langen Laufes. Warum laufe ich? Wohin laufe ich? Wer bin ich und wenn ja, wie viele? All diese Fragen werden philosophischen Betrachtungen unterworfen. Buchtitel wie „Der lange Lauf zu mir selbst“ sprechen Bände. Wie es scheint, ist der Läufer seiner nichtlaufenden Umwelt an Reflexions- fähigkeit, Selbsterkenntnis und spiritueller Reife weit überlegen.
Doch das alles ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist Schweigen – und das ist für gewöhnlich auch besser so. Haben Läufer nämlich eine gewisse Geschwindigkeit überschritten, betreten sie ein Terrain, das jeder anspruchsvollen Hirntätigkeit abträglich ist. In diesem Zustand würde „Sponge Bob“ als intellektuelle Herausforderung empfunden. Ich will versuchen, diesen Zustand zu dokumentieren – am Beispiel meines Hugenottenlaufs in Neu-Isenburg.
Der Halbmarathon dort startet um 9 Uhr. Wenn man nicht (wie wir vor ein paar Jahren) während des Einlaufens irgendwo im Wald von einem Startschuss überrascht werden möchte, sollte man sich die Uhrzeit gut merken. Das Wetter: perfekt. Die Duschen: defekt. So steht es auf einem Schild in der pudelwarmen Umkleidekabine. Macht nichts. Hauptsache, die Toiletten sind es nicht. Am Stadion sind unzählige davon, aber das weiß kaum jemand und deshalb steht man hier in der Halle Schlange. Das gehört eben zur Tradition.
Schlangen gibt es auch bei den Voranmeldungen, wohl dem der ein Nachmelder ist. Wohl uns. Wir laufen uns ein wenig in der weitläufigen Sportanlage ein und begrüßen einen dösenden Bembel auf der Wiese. Es handelt sich dabei um eine Art Bembeldenkmal mit halbgeschlossenen Augen. Vermutlich ein Hugenottenbembel. Auf jeden Fall großartig.
Wir schieben uns zum Start. Obwohl wir früh dran sind, ist das Gedrängel groß. 1500 Läufer wollen auf die Strecke und etwa 1000 davon versuchen ihr Recht durchzusetzen, aus der ersten Reihe zu starten. Neben mir sind mein Trainingspartner und mein Bekannter. Beide motiviert bis in das verkapselte Ende ihrer Schnürsenkel. Ich natürlich auch, schließlich will ich meine zweitbeste Zeit laufen. Wenn zwischen der Bestzeit und der Zweitbestzeit eine Lücke von fast drei Minuten klafft, könnte man die doch einfach zulaufen. Das ist einfacher, als die Bestzeit zu knacken (was bei meinem Trainingszustand nicht realistisch ist), und es könnte immer noch triumphal sein.
Start. Ich drücke die Uhr ab und los. Meine Güte, was ein Gerangel. Zum Glück kommt bald eine breite Straße und das Feld kann sich etwas entzerren. Trotzdem: war da vorne schon immer so viel los? Zum sechsten Mal bin ich heute hier, irgendwie war es sonst ruhiger. (Noch merke ich nicht, dass mir schon jetzt das Gehirn erste Streiche spielt. Es war nie ruhiger – ich war sonst ruhiger). Es geht bergab. In Neu-Isenburg geht es immer bergab und nie bergauf. Trotzdem kommt man auf der gleichen Höhe wieder an. Ich nenne es „das Hugenottenwunder“.
Nach etwa anderthalb Kilometern schaue ich auf die Uhr. Sie zeigt 16 Zehntel- Sekunden. Ich wusste zwar, dass ich schnell bin – aber so schnell? Aus irgendwelchen Gründen hat die Uhr sich nicht ausgelöst. Dafür bin ich jetzt aufgelöst. Wie soll man Zweitbestzeit laufen, wenn man nicht weiß, wo man steht, äh läuft, na ja, Sie wissen schon. Ich drücke natürlich sofort noch einmal auf die Uhr und passiere nach 3 Minuten Kilometer 2. Donnerwetter. Noch immer kann man nicht frei laufen, ich überhole Läufer, die im 6-Minuten-Schnitt vor sich hin schlappen und offensichtlich erst einmal im 3-Minuten-Schnitt gestartet sind. Aber ich will ihnen nicht grollen, es genügt mir völlig, meine Uhr zu beschimpfen. In meinem Kopf klingt es jetzt so:
Die Uhr. Des gibt’s doch net. Ich hab doch gedrückt. 3 Minuten. Was fang ich an mit 3 Minuten. Ich lauf doch keine drei Minuten auf 2 Kilometer. So’n Scheiß.
Hier kann man sehr schön erkennen, wie schon nach wenigen Kilometern knapp unter dem 5-Kilometer-Schnitt das sprachliche Niveau sinkt. Schon jetzt ist etwa die Höhe von RTL II erreicht. Und es wird nicht besser.
Wald. Gut.
Dem Frankenstein-Monster aus alten Filmen gleich, das einfache Begriffe lernt („Freund. Gut.“), bewerte ich meine Umwelt.
Schotter. Fies. Falsche Schuhe. Blöd. Ich kippel. Mit den anderen Schuhen hätte ich nicht gekippelt. Voll fies. Die laufen nebeneinander. Voll fies. Ich komm rechts nicht vorbei. Blöd. Ich komm links auch nicht vorbei. Blöd. Ich spring jetzt am Rand vorbei. Voll gekippelt. Falsche Schuhe. Blöd.
Ab Kilometer sieben (und hier hat sich das Feld endlich beruhigt) denke ich nur noch kurze Worte. Im Vordergrund steht die Selbstbeobachtung – allerdings ohne jede erkennbare transzendentale Motivation.
Wasser. Kalt. Schlecht für den Magen. Aua. Mist. Wasser schlecht. Nie wieder Wasser.
Wie gern würde ich meine gelaufenen Minuten nach 10 Kilometern wissen. Mich beschäftigen Fragen nach Zeit und Raum.
41 Minuten. Plus anderthalb Kilometer. Vielleicht sieben. Oder sieben einhalb. Minuten. Plus 41. Gibt 47. Äh. 48 Kilometer. Nein Minuten. Auf 10 Kilometer. Mal zwei gibt … 50 mal zwei gibt 100 Minuten. Minus vier gibt. … Schotter. Ich kippel. Falsche Schuhe. Blöd.
Irgendwo unterwegs habe ich meinen Bekannten getroffen und wieder verloren. Auch sonst achte ich auf andere. Soziales Miteinander beflügelt die hehren Gedanken.
Der stinkt. Wie komm ich von dem weg? Lauf ich links. Ne, geht net. Lauf ich rechts. Gut. Stinkt immer noch. Stinkt weniger. Stinkt noch weniger. Stinkt nicht mehr. Den da vorn krieg ich jetzt auch noch.
Inzwischen bin ich auf den letzten Kilometern angekommen. Das mit der Zweitbestzeit müsste zu machen sein. Ich stürze durch den Wald, genieße das Hugenottenwunder, grolle abwechselnd den Schuhen und der Uhr, aber beides geht nicht sehr tief. Eine Leichtigkeit erfasst mich, ich kann nicht mehr denken und gerade das ist ein Genuss. Wozu denken? Laufen genügt. Laufen ist alles, was mir der Moment abverlangt und das ist eine überschaubare Anforderung. Ich laufe und alles andere ist nicht wichtig. Denke ich das? Ist mir das klar? Hören wir – so kurz vorm Ziel – doch noch mal rein, was so in mir vorgeht.
Uff. Kurve. Gerade. Lautsprecher. Gleich da. Der überholt noch. Sausack. Gleich da. Gleich da. Gleich da. Gleich da. Gleich da. Stadion. Gleich da. Gleich da. Gleich da. 1:44 Brutto. Das reicht. Zweitbestzeit. Da!
Das also war – an meinem Beispiel Neu-Isenburg – die meist verschwiegene Gedankenwelt von Läufern, wenn sie ganz persönliche Geschwindigkeitsgrenzen überschreiten. Meiner Erfahrung nach normalisiert sich die Hirntätigkeit erst etliche Minuten nach dem Zieleinlauf wieder. Spätestens beim Denken von längeren Begriffen wie „Weizenbier“ oder „Streuselkuchen“ ist der Läufer wieder ganz der Alte. Bereit für den nächsten „langen Lauf zu sich selbst“.
Nachtrag:
1) Meine Zweitbestzeit liegt bei 1:43:30. Die Platzierung: 22. Frau von 381. 6. meiner Altersklasse von 60.
2) Mein Laufpartner und mein Bekannter konnten das Hugenottenwunder ebenfalls für sich nutzen und sind mit ihrem Ergebnis zufrieden. Was sie unterwegs gedacht haben, weiß ich nicht.
3) Der Streuselkuchen war aus Gründen der Schlangenvermeidung ausnahmsweise von zuhause mitgebracht. Der Kaffee auch.
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