Der Allessa Chemie Mainuferlauf /21 km in Offenbach (2007)

Der Offenbacher Mainuferlauf hat zwei Negativ-Image-Päckchen zu tragen. Erstens: Sponsor ist ein großes Chemiewerk, zweitens: er findet in Offenbach statt. Vor dem unbedarften inneren Auge entstehen da schnell Bilder von Horden marodierender RTL 2- Zuschauer mit geknöpften Oversize-Trainingshosen und Bomberjacken, die durch eine grüne Chemie-Abgaswolke rappen. Aber unser Auge ist natürlich nicht unbedarft, nicht mal das innere. Mein Trainingspartner und ich kommen schon seit vielen Jahren gern nach Offenbach. Denn erstens: das Chemiewerk ist ein spannendes Umkleideparadies, zweitens: Offenbach ist schön. Zumindest am Mainufer und woanders wollen wir ja auch gar nicht hin.

Dazu kommt, dass man hier wunderbare Rituale pflegen kann. Der Weg zur Anmeldung, vorbei an den vielen Werksfahrrädern der „Allessa Chemie“. Zurück zur Umkleide, Herren 1. Stock, Damen 2. Stock. Ausbreiten: die Umkleide, die „Badehaus“ heißt, ist so groß, dass meine Sporttasche völlig verloren wirkt.

Und der wichtigste Teil des Rituals: das Packen einer kleinen Zieltasche. Der Weg vom Werk zum Start ist so weit, dass es sich lohnt, ein Handtuch und etwas Trockenes für danach mitzunehmen. Schließlich kühlt man bei Oktober-Temperaturen schnell aus. Und wer will sich schon nach dem Zieleinlauf abhetzen, um sich nicht zu erkälten. Außerdem muss man so auch vorher nicht frieren – erst kurz vor dem Start wandert der Fleecepulli in die Tasche. So wackeln wir also mit unseren Tüten hinunter zum Mainufer.

Leider gehört zum Ritual auch das Suchen eines üppigen Busches, der sich als Damentoilette eignet. Nach beinahe 1 km Einlaufen finde ich ein paar mickrige Zweige. Gut, dass der Pullover lang ist, ich möchte nicht, dass vorbeikommende Läufer denken, im Gebüsch sei der Mond aufgegangen. Die Situation ist gewohnt, aber immer wieder zum Seufzen.

Wir sind schön warmgelaufen und tun noch ein wenig so, als ob wir uns dehnen. Dann geht es zum Start. Alles ist entspannt – bis mein Trainingspartner versucht, seine Uhr auf 0:00 zu stellen. Der Knopf klemmt. Noch 1 Minute bis zum Start (meine Uhr geht ja).
Drücken. Nichts. Ziehen. Nichts. Wieder drücken. Uhrarmband ab. Drücken. Keine Regung. Fluchen. Uhrarmband dran. Uhrarmband wieder ab. Fluchen, drücken. Peng. Startschuss. Es geht! Der Schuss hat die Uhr offensichtlich an ihre Pflicht erinnert, die Sekunden laufen. Es war zwar nicht meine Uhr, aber ich bin jetzt ganz hibbelig.

Los geht’s. Die Sonne scheint und wie immer wollen in Offenbach erst einmal diejenigen überholt werden, die sich mit einer geplanten Zielzeit von zwei Stunden direkt hinter der Startlinie aufgestellt haben. Man erkennt sie schon von weitem an der um die Hüfte geknoteten Jacke, dem Gefängniswärter-Schlüsselbund, dem Kleingeld in der Hosentasche, dem laut eingestellten Schrittzähler und der 1,25 Liter-Flasche auf dem Rücken. Das alles stört mich heute aber kaum, schon nach einem Kilometer ist Ruhe und man kann friedlich vor sich hin heizen. 

Ich habe mir vorgenommen im 5er Schnitt zu starten und dann zu sehen, wie es sich anfühlt. Den ersten Kilometer laufe ich in 4:50, ich habe also keine Ahnung, wie sich 5 angefühlt hätten. 4:50 fühlen sich schnell, aber nicht japsig an. Also weiter so. Die Sonne scheint, unter mir ist Asphalt und ich trage die gut gestützten Schuhe. Es wird schon nicht weh tun. Nach wenigen Kilometern erreiche ich den Stöhnläufer. Einen Moment lang graust mich die Horrorvision, dass ich jetzt 18 Kilometer in Begleitung von rhythmischem „Ah, Äh, Ah, Äh“ laufen muss. Aber der Stöhnläufer ist heute schlecht drauf und lässt mich „Ah, ah, äh“ ziehen. Ist das etwa mein Glückstag? Ich schnuppere in die Luft. Riecht so ein Bestzeitentag?

Bald habe ich eine Frau an meiner Seite. Das ist oft etwas Feines, weil die Schrittfrequenzen sich so besser synchronisieren. Es ist nett, zu zweit vor sich hinzutippeln. Das tun wir dann auch. Der launige Streckenposten ruft: „Los auf geht’s, euch laufen die Männer weg!“, aber ich nehme das nicht so ernst. Es laufen bestimmt nochmal so viele hinter uns her. Und noch besser: sie kommen uns sogar entgegen. Der Mainuferlauf in Offenbach ist nämlich eine Wendepunktstrecke und der erste Läufer schießt jetzt an uns vorbei. Gefühlte vier Minuten später folgt der zweite. Sapperlot.



Nach etwa zehneinhalb Kilometern steht mitten auf dem Weg hinter einem Lübecker Hütchen ein einzelner Mann (seit ich weiß, dass der geringelte Pylon „Lübecker Hütchen“ heißt, habe ich mir vorgenommen, dieses Wort so oft wie möglich zu verwenden).
Das ist das wunderbare an einem Volkslauf: hunderte von Menschen rasen ohne Not auf ein Lübecker Hütchen zu, umrunden es, und rasen wieder zurück. Wenn sie ganz viel Glück haben und viele, viele Stunden trainiert, gewinnen sie eine Flasche Shampoo. Oder eine Nylonbauchtasche. Die legen sie dann zuhause zu den anderen 37 Bauchtaschen und trainieren weiter. Wunderbar.

Da das Lübecker Hütchen trotz seines wohlklingenden Namens und seiner heiteren Ausstrahlung nicht sprechen kann, motiviert uns der einzelne Mann mit reichlich Aufmunterung. Ich kann sie brauchen. Schließlich stand meine 10er Durchgangszeit bei 47:55 und das ist doch beängstigend schnell. Noch immer laufe ich zusammen mit der mir unbekannten Dame. Gelegentlich atmen wir sogar im gleichen Rhythmus. Ich genieße jetzt einen weiteren Vorteil der Wendepunktstrecke: ich sehe viele Menschen nach mir kommen, die viel athletischer, schneller und jünger aussehen als ich. Auch wenn sie mich nachher allesamt überrollen sollten – im Augenblick tut das gut. 



Zum zweiten Mal lasse ich jetzt die angebotene Getränkestelle aus. Ich kann nicht erkennen, ob es warmen Tee gibt und ein Wasser, dass die Nacht vermutlich bei vier Grad auf einem LKW verbracht hat, will ich lieber nicht versuchen. Ich schaue auf die Uhr und beginne langsam zu rechnen. Tatsächlich. Es ist möglich. Theoretisch zumindest. Ich kann heute meine Bestzeit knacken. Für einen Moment macht mich das so ungeheuer froh, dass ich frei und locker einen kleinen Zahn zulege. Es fühlt sich toll an. Ich lasse sogar meine Mitläuferin hinter mir. Es geht ganz leicht.



Ich habe keine Ahnung, welches Hormon sich eben noch bei mir ausgeschüttet hat. Ich weiß nur: es baut sich sehr schnell wieder ab. Seine Abbauprodukte: ein rechtes und ein linkes Bein aus Blei. So sehr ich es auch versuche, ich kann die Geschwindigkeit, mit der ich seit 15 Kilometern fliege, nicht mehr halten. Meine Mitläuferin läuft einfach vorbei. An mir, an meinem Tief, an meinem zerbrochenen Stück Glück, das nur einen Kilometer hielt. Eben noch war ich so zuversichtlich, jetzt ist der Traum schon vorbei. Ich rechne wieder. Ich werde es nicht schaffen. Man darf die 0,1 km der 21,1km nicht vergessen. Das können 25 Sekunden sein. Und jetzt geht es um Sekundenarbeit. 1:42:05 sind zu knacken. Wenn ich so weiterlaufe, komme ich vielleicht bei 1:42:10 an. Ich rieche den Bestzeitentag nicht mehr. Ich bin todtraurig, aber todtraurig kann man nicht schnell laufen. Jetzt läuft sogar noch eine junge Frau an mir vorbei und ich kann nicht dranbleiben. Jetzt kommen sie vermutlich alle, die Athletischen und Schnellen von vorhin, die ihren Rückstand locker aufgeholt haben. Ich bin geplatzt, verbrannt, verglüht.



Ein Tief ist etwas Furchtbares, vor allem, wenn es einen so unvorbereitet trifft. Die lange Gerade am Ufer entlang hat etwas Zermürbendes. Auf einmal weiß ich, dass nicht ich es bin, die am Ende ist, sondern nur mein Kopf. Ich bin seit fast anderthalb Stunden mehr oder weniger geradeaus gelaufen. Einmal mit dem Main links, jetzt mit dem Main rechts. Ich bin müde im Kopf. Aber ich will nicht geplatzt, verbrannt, verglüht sein. Ich will jetzt Bestzeit laufen. Ich habe noch einen Kilometer Zeit, das Blatt zu wenden.

Das ist wenig. Leider und zum Glück. Ich denke: einen Kilometer lang geht immer noch was und drehe auf. Hirnlos und stillos stampfe ich drauf los. Ich treibe mich an, wie einen lahmen Ackergaul. Ich denke das Wort „Lübecker Hütchen“, das bringt mindestens drei Sekunden. Wann kommt denn dieses vermaledeite, bekloppte Ziel? Lieber nicht mehr auf die Uhr sehen, nur noch rennen. Ab und zu mache ich „Ah, Ah, Äh“, in der Hoffnung, das es hilft. Zumindest läuft jetzt keiner mehr an mir vorbei. Da ist das bunte, aufblasbare Zieltor vom Mainlauf-Cup. Schöner war es nie. Rennen, rennen, rennen. Reinkommen. Uhrstoppen. Vorsichtig auf die Uhr gucken. 1:41:58. Persönliche Bestzeit.

Nach ein paar Minuten ausschnaufen ist alles wieder gut. Ich scherze mit meinem Trainingspartner (dessen Uhr durchgehalten hat – er sowieso) und wir trinken mindestens 8 Becher Tee.

Dann ziehen wir uns alle mitgebrachten Pullover übereinander und schlunzen langsam zurück.

Alles ist rosig. Das Tief vergessen. Dass heute ein besonderer Tag ist, merke ich später nur daran, dass ich das erste Mal vergesse, ein Erinnerungsfoto von meinem Belohnungskuchen zu machen.


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