Der New York Marathon 2007.

Irgendjemand hat mir über Nacht die Augen zugenäht. Sie gehen einfach nicht auf. Es ist viel zu früh. Doch kaum ist das Licht im Zimmer an, mischt sich geschäftige Aufregung in die Müdigkeit. Zwar liegen alle Kleidungsstücke bereit, aber man kann sie immer noch von rechts nach links legen. Und die Mütze suchen. Und die Sonnenbrille putzen. Dann die Sonnenbrille verlegen und suchen. Man kann den Fotoapparat noch einmal aufladen und das Zimmer abwandern, um die beste Steckdose zu finden. Ach, man kann so vieles, wenn man doch eigentlich gar nichts mehr muss. Oder doch, man muss. Schon wieder. Ich war doch erst. Man kann auch den Fernseher anmachen, um zum 274sten Mal den Wetterbericht zu sehen. Kühl und sonnig. Der beste Tag der Woche. Na bitte. Die schönste Gelegenheit, um die Sonnenbrille zu verlegen, zu suchen und wieder zu finden. Man muss sich ja beschäftigen. Es ist viel zu früh.

Um halb sechs gehen wir frühstücken. In dem kleinen Frühstücksraum riecht es wie jeden Morgen nach irgendetwas Klebrigem mit Apfel und Zimt. Am Buffet stehen Läufer und laden Bagel auf ihre Plastikteller als gäbe es kein Morgen. Viele sind ungeheuer dünn angezogen, und ich fange sofort an, meine Mütze zu suchen. Verstohlen schiele ich auf die Startnummern. Die mit den blauen Zahlen sind die schnellsten. Die mit den grünen müssen auf der Verrazano-Brücke unten laufen. Die orangenen sind die Langsamen. Ich habe orange. Alle mümmeln ihre Bagels und Muffins, als wäre es ein ganz normaler Tag. Man gibt sich betont lässig. Nur der ein oder andere Lacher gerät auffällig laut.

Um kurz vor sechs steigen wir in den Bus ein, den Interair für uns bereitstellt. Der Reiseleiter ist aufgeregt. Werden alle pünktlich sein? Immer wieder vergisst ein Dussel seinen Chip und muss noch einmal zurück in den 12. Stock. Wartezeit am und im Aufzug: 10 Minuten. Wir jedenfalls sitzen im Bus. Ich habe nicht verschlafen, bin warm angezogen und drücke meinen riesigen Läuferbeutel an mich. Der Chip ist da, die Sonnenbrille, die Mütze, die Getränke, der Fotoapparat – alles wird gut. Dies ist mein achter Marathon, aber alles ist eben etwas anders. Das kann einen schon mal ein bisschen kribbelig machen.

Der schwarze und lässige Busfahrer löscht das Licht im Bus. Die Männer rufen „Whoo“, und die Frauen kichern wie Teenager. Der Busfahrer schnalzt mit der Zunge und brummt „Behave!“. Interair versorgt uns noch mit gelben Plastikwesten gegen die Morgenkälte am Fort Wadsworth, dem Militärareal, wo uns der Bus wieder ausspucken wird und auf dem wir dem Lauf entgegenlagern – und los geht’s. Alle tun, so, als ob sie noch etwas dösen, was nahezu unmöglich ist, wenn in beinahe menschenleeren Straßen die Sonne aufgeht. Menschen sieht man in der Tat kaum, dafür umso mehr Busse. Alle streben sie der Verrazano Brücke zu, als wäre dahinter die Arche Noah zu erwarten.

Die Brücke wird um sieben gesperrt, das macht das Ganze spannender. Eine Reifenpanne sollte man jetzt nicht haben. Natürlich haben wir keine (man wird doch mal unken dürfen!), der schwarze Busfahrer wünscht uns viel Glück und wir sind mit den anderen 38.700 Läufern allein. Damit wir uns nicht einsam fühlen, empfangen uns gleich am Bus einige Helfer. Es ist Sonntagmorgen, kurz vor sieben, und hier stehen Menschen in der Kälte, die dafür nicht einmal bezahlt werden und machen für uns die Welle.

Sie wünschen uns Glück und einen schönen Tag, sie fragen uns wo wir herkommen und wie wir heißen, sie bejubeln uns, noch bevor wir einen einzigen Laufschritt getan haben. Noch nie habe ich so fantastische Helfer gesehen. Bevor ich an unseren Wartezonen angekommen bin, bin ich den Tränen nahe. Wo gibt’s denn sowas!

Die orangefarbene Zone heißt „Grete Waitz-Area“ und wir freuen uns über die Würdigung der schwerkranken Läuferin, die neun Mal den New York Marathon gewonnen hat. Wir suchen uns einen Platz auf der Wiese, als wären wir im Freibad und an Stelle der Handtücher breiten wir Plastikfolien, Zeitungen und Alukissen aus. Die besten Plätze sind hier an der Sonne, und wir erhaschen einen davon. Was nun beginnt, ist eine Mischung aus Woodstock, Camping und der größten Altkleider-Modenschau der Welt. Die Läufer tragen Mützen, die Zwerg Nase zu peinlich wären, Trainingsanzüge aus dem frühen Tertiär, Sweatshirts vom letzten John Denver Konzert und Skijacken aus der Zeit von Toni Sailer. Dazu sitzen sie auf Pappkartons und Folie und hüsteln ein bisschen vor sich hin. Würden wir nicht alle so aussehen, würden wir uns gegenseitig bestimmt einen Dollar hinwerfen.

Natürlich gibt es auch die Luxusvariante: ein offensichtlich verwöhntes Pärchen lagert auf einem 20 Zentimeter hohen aufblasbaren Gäste-Doppelbett. Keine Ahnung, wo sie das später lassen wollen. Viele rollen sich in alte Decken und Schlafsäcke, Hartgesottene liegen ohne Unterlage flach auf der Erde, die Arme verschränkt, die Kappe im Gesicht. So gilt es, drei Stunden zu überbrücken.

Meine Großeltern haben mir keinerlei warme Kleidung hinterlassen und so trage ich eine Steppjacke, die ich eigens für diesen Zweck bei ebay erstanden habe. Für einen Euro, versteht sich. Eine Jacke kaufen, einmal tragen und dann wegwerfen – heute bin ich Paris Hilton für einen Tag.

Ich gehe durch das Geraschel und Geknister der Folien die Lage peilen. Es gibt Bagel (schnell) und warmen Tee (mit Wartezeit). Die Toilettenlage erscheint großzügig. Man kann sich noch einmal aus Vaseline-Bechern bedienen, die so groß sind wie ein Familienglas Nutella. 

Und man kann sich noch einmal fotografieren lassen, jetzt, wo die Frisur noch sitzt. Die Größe des Areals lässt den ganzen Wahnsinn der Logistik erahnen. Am Fotopoint treffen wir einen Freund (man kann sich hier sogar verabreden), und ich begebe mich wieder in die Clochard-Haltung auf der Plastikfolie. In dem großen Zelt nebenan (wer will bei strahlendem Sonnenschein schon in ins Zelt) beginnt jemand in ein Mikro zu singen, der beim besten Willen nicht singen kann. Ich flüchte schnell zu den Dixie Häuschen, die hier Portapotties genannt werden und fantasievolle Aufdrucke haben – „Royal Flush“, zum Beispiel. An dieser Stelle ein kleiner Tipp für alle, die noch in New York laufen wollen: es gibt zwei verschiedene Sorten Toilettenhäuschen. Die, an denen man sich gegenseitig die Lebensgeschichte erzählt, Kochrezepte austauscht und den kompletten Text von „New York, New York“ rekonstruiert. Und die, in die man einfach hineingeht und pieselt. Die ersteren sind deutlich beliebter. Vor ihnen bilden sich lange Schlangen. Die anderen liegen etwas weiter weg im hinteren Teil des Areals. Dort steht kaum jemand. Man kommt schlecht ins Gespräch, ist aber schnell erleichtert. Man muss eben Prioritäten setzen.

Als ich zurückkomme, hat das Wesen am Mikro das Zelt beinahe leergesungen. Ich mache ein paar Fotos, und dann beginnt auch bald der Strip: vorsichtig entledigen wir uns testhalber der ersten Kleidungsstücke. Auch die Menschen um uns herum lassen gähnend ihre antiken Joggingbuxen fallen. Als reine Übersprungshandlung beißen wir noch einmal leidenschaftslos in irgendetwas aus unserer Tüte, das essbar aussieht, und dann heben wir unser Lager auf.

Irgendwann muss ein Läufer tun, was ein Läufer tun muss: den Kleiderbeutel abgeben. Wir sind gelassen, schließlich wissen wir genau, wo wir hin müssen. Die folgende halbe Stunde entwickelt sich allerdings zum Desaster und ist der einzige schwarze Fleck auf der ansonsten blütenweißen Weste der Organisation. Die nummerierten UPS-Wagen, die unsere Kleiderbeutel entgegen nehmen, stehen in einem teilweise eingezäunten Areal. Zu viele Läufer kommen auf einmal dorthin und verstopfen Ein- und Ausgang. Niemand kommt mehr hinaus oder hinein. Wir stehen starr und hoffen. Hoffen, dass der Ordner am Zaun eine Lösung findet, dass der aufkeimende Unmut nicht in Aggression umschlägt, dass niemand in der dichten Menge eine Panikattacke bekommt, dass die von hinten hinzukommende Menge die Lage begreift und nicht drückt. Glücklicherweise sind Läufer Wunderwesen, die auch solche Situationen mit relativer Ruhe überstehen. Beutel werden über den Köpfen durchgegeben und wir finden ein Entkommen zwischen den engstehenden Wagen. Jetzt schnell noch eines der unkommunikativen Portapotties aufsuchen und ab in den Startblock.

Die Startzonen, sogenannte Corrals, sind nach Startnummern in tausender Schritten unterteilt. Wir schieben uns irgendwo zwischen die langsamsten der schnellen Frauen und die schnellsten der langsamen Männer. Ein 4:30 Pace-Luftballon weht über unseren Köpfen, das passt ungefähr. Wieder einmal befolgen einige Läufer die berühmte Dummbatz-Regel: Entledige Dich Deiner alten Jogginghose erst, wenn Du in der Menge stehst und weder Platz noch Halt hast, um das ganze reibungslos zu tun. Darauf folgt unmittelbar die Dummbatz-Regel Nr. 2: Lass die ollen Klamotten dort liegen, wo Du stehst, damit sich nachfolgende Läufer sich darin verfangen und stolpern. Während wir langsam Richtung Brücke geführt werden, bemerken wir, wie beliebt die zweite Regel ist. Die Menge stapft wie Störche im Salat über das Weggeworfene, um nicht daran hängen zu bleiben.

Wir passieren ein Corral-Schild nach dem anderen, bis wir an F1-F100 vorbeikommen. Hier standen eben noch Catherine Ndereba und Paula Radcliffe. Die Brücke kommt immer näher und es wird alles immer unwirklicher. Plötzlich tut es einen großen Schlag – pünktlich erfolgt der Startschuss. Wir marschieren weiter, während auf der Fahrbahn neben uns bereits gelaufen wird, die „Blauen“ sind schon unterwegs. Bald laufen auch wir, vorsichtig, feierlich und unsicher. Wo ist denn der Start? Von irgendwoher ertönt der unvermeidliche Sinatra und brennt sich zusammen mit der Sonne, der Brücke und der bunten auf und ab wippenden Menge für immer ins Gedächtnis. „Da ist die Matte!“ rufe ich und wir lauschen mit feuchten Augen dem ersten Piepen der registrierten Chips. Für mich kommen jetzt ein paar Fotostops und ich verliere meinen Begleiter aus den Augen.

Nachdem Sinatra außer Hörweite ist, wird es seltsam still. Es wird deutlich weniger geplaudert als sonst auf dem ersten Kilometer.

Als wir die Brücke verlassen, ist Schluss mit Stille. Brooklyn empfängt uns mit der geballten Kraft ausgeschlafener Lungen. Die Zuschauer haben auf uns gewartet und wir auf sie – so freuen wir uns einander zu sehen. Wir begrüßen uns wie alte Bekannte. Nachdem ich langsam anfange zu begreifen, wo ich bin und was ich da gerade tue, habe ich Zeit für ein ausgiebiges T-Shirt-Studium.

In New York ohne Botschaft zu laufen ist beinahe unmöglich. Die kürzeste Botschaft besteht im eigenen Namen, den man sich auf das T-Shirt malt oder pinnt. Die Message lautet: „Feuer mich an, brüll meinen Namen, das hilft mir.“ Varianten davon lauten z.B.: „Don’t let me stop!“ oder „Push me here“ (mit einer markierten Stelle auf dem Rücken). Manche wollen noch ein bisschen mehr erzählen wie „This is my very first marathon!“ oder „This is my father“ (mit einem Pfeil nach links). Dann gibt es natürlich die Ranschmeisser mit den schlichten „I love NY“-Shirts oder etwa in der holprigen, patriotischen Version: „Moin, moin – Ostfriesland is greeting New York“. Nicht zu vergessen all diejenigen, die den Lauf jemandem widmen, oft einem verstorbenen Angehörigen oder einfach den eigenen Kindern: „My Dad is watching me from the sky“ oder „I do this for Mia and Dennis“. Meistens gibt es auf diesen Shirts auch Fotos zu sehen, von lachenden Feuerwehrmännern und schlecht belichteten Kindergesichtern beim Essen. Die häufigsten Shirts sind allerdings die der zahlreichen Charity-Partner. Wer ein solches T-Shirt trägt, hat in den letzten Monaten fleißig Geld gesammelt. Eine vorgegebene Mindestsumme garantiert einen Startplatz – für Amerikaner neben der Qualifikation die einzige Möglichkeit, ohne Lotterieglück dabei zu sein. Eine der größten Charity-Gruppen bildet „Fred’s Team“, benannt nach dem an Krebs verstorbenen Vater des NYC Marathon Fred Lebow. Mit dem Slogan „Imagine a world without cancer“ sammelt Fred’s Team für ein Krebsforschungszentrum. Insgesamt kommen heute etwa 13 Millionen Dollar für wohltätige Zwecke zusammen – nur durch Läufer.

In Brooklyn zu laufen ist großartig. Die Straßen sind breit, und überall stehen dunkelhäutige Kinder, die abgeklatscht werden wollen. Manches Mal sind die Hände so klein, dass man sich bücken und sehr genau zielen muss, um sie zu treffen. Die Hände sind winzig, weich und vollkommen schlapp. Vor allem bei den Jungs wird jeder Treffer wie ein persönlicher Triumph gefeiert.

Auf der anderen Straßenseite laufen, etwas versetzt von uns, immer noch die schnellen Blauen. Sie haben einen großen Vorteil: auf der rechten Seite stehen die meisten Bands. Sie sind ganz und gar unglaublich. Durchschnittlich alle 500 Meter steht eine Band. Damit ist nicht etwa eine Handvoll Sambatrommler gemeint, sondern oft eine Rocktruppe in bester Besetzung. Sie heißen Happy Anarchy, Superman’s Guest List oder Death by Choice. Sie sind laut und groovy. Der New York City Marathon ist ein riesengroßes Openair-Konzert. Zwischen Meile 8 und 9, nachdem orange, grün und blau vereint laufen (der erwartete Stau bleibt aus), komme ich an Bishop Loughlin High School’s marching band vorbei. Sie spielen den Titelsong von „Rocky“. Sie haben ihn auch schon für Paula Radcliffe gespielt. Und für Lance Armstrong. Sie spielen ihn auch für RTL Anchorman Peter Kloeppel. Für die laufende Banane, für den Schweizer, der in einem Schaumstoff-Käse läuft, für Chewbacca aus Star Wars, für Katie Holmes und für den Paddington Bär. Sie spielen dieses eine Stück den ganzen Tag. Jedes Jahr, seit 30 Jahren. (Mehr über die Bands beim NYC Marathon gibt’s hier)

Vor mir laufen Menschen, die so aussehen, wie Pacemaker. „Pace Team“ steht auf ihrem Rücken. Die Sache hat nur einen Haken: darunter steht bei dem einen 4:20, bei dem anderen 5:40. Hier stimmt etwas nicht. Mit detektivischem Spürsinn finde ich heraus, dass es sich nicht um Pacemaker handelt, sondern um „Ich-würde-gern-ungefähr- so-lange-brauchen-Läufer“. Jeder konnte sich auf der Marathon-Messe einen solchen Zettel mit einer beliebigen Zeit besorgen und sich auf den Rücken pinnen. Es ist eine der vielen Maßnahmen, die hier die Kommunikation fördern. Rein sportlich gesehen ist das ganze völlig nutzlos, da viele der Läufer offensichtlich keinen Schimmer haben, wie schnell sie eigentlich unterwegs sind. Macht nix. War ja gut gemeint. Apropos rein sportlich gesehen: ich merke schon jetzt, dass dies nicht mein Tag ist. Die Beine sind schwer und steif und ich kann sie deutlich spüren, obwohl ich mich sehr langsam durch Brooklyn schiebe. Außerdem habe ich ungeheuren Durst. Es sind nicht einmal 15 Grad und ich trinke wie ein Pferd.

Mein mitgebrachtes Getränk ist schon zu Hälfte ausgetrunken und ganz gegen meine Planung trinke ich knallgrünes Gatorade und Wasser. Seltsam ist das mit dem Durst. Zur Erheiterung will mich der Stadtteil ein bisschen necken und zeigt mir den Stinkefinger in Form eines großen Gebäudes, auf das wir jetzt zulaufen. 

In Williamsburg wird es merklich ruhiger. Nur wenige Zuschauer haben sich hier plaziert. Die Juden, die dieses Viertel bewohnen, scheinen am Marathon beinahe demonstrativ uninteressiert. Ich atme durch, falle ein wenig in mich und bemerke, dass meine Oberschenkel verdächtig ziehen. Und wir haben nicht einmal die Hälfte erreicht. Ich bin verblüfft, so kenne ich mich gar nicht. Im letzten Teil von Brooklyn steppt wieder der Bär, es wird gerufen, gejubelt und geklappert. Bei deutschen Marathons sind die hochgehaltenen Schilder oft an einen Läufer gerichtet, man liest „Dieter, Du schaffst es“ oder „Papa, Du bist der Größte“. Hier sind die meisten Schilder für alle gedacht. „Go, go, go!“ oder „You’re great, almost there“ findet man überall. Letzteres tatsächlich noch vor der Halbmarathonmarke. Optimismus ist etwas Wunderbares.

Bei Meile 13 halte ich nach der Interair-Fahne Ausschau. Hier soll jemand fotografieren. Ein guter Plan, wer weiß, wie ich später aussehe, wenn das so weiter geht. Aber ich verpeile die Fahne und konzentriere mich stattdessen auf den fantastischen Ausblick von der Pulaski-Bridge. 

Es ist ein Jammer: im Zusammenhang mit dem NYC Marathon liest man über die Brücken immer nur von Höhenmetern, Steigungen, Gehpausen und Krämpfen. Aber selten wird darüber berichtet, wie unglaublich schön diese Brücken sind. Die schönste von allen ist die Queensborough-Bridge, die man schon zwei Meilen zuvor sehen kann. 

Sie ist einer der Höhepunkte der Strecke. Lang und anstrengend und wenn man sie durchmessen hat, kann man sie noch einmal von unten betrachten. Dank der schmerzhaften Muskelverspannung in den Oberschenkeln wird mir die Brücke zum Freund. Bergauflaufen tut mir gut, der Aufprall erscheint nicht so hart. 

Nach der Queensborough-Bridge sind wir in Manhattan. An Queens habe ich kaum besondere Erinnerungen. Außer, dass ich mich mit einer jungen Dame beinahe um ein Portapottie prügelte. Sie gewann und ich zog zur nächsten Meile. Anstehen bei einem Marathon ist blöde aber unvermeidlich, wenn man als Gatoradeflasche auf zwei Beinen unterwegs ist. Aber zurück (bzw. vor) zu Manhattan. 

Vier Meilen stracks geradeaus sind nicht jedermanns Sache. Wenn man allerdings wie ich den „Is jetzt auch egal“-Status schon bei Kilometer 28 erreicht (sonst frühestens bei km 38), dann ist das jetzt auch egal. Die First Avenue ist lustig. Man schaut nach rechts (und es jubelt), dann schaut man nach links (und es jubelt auch). Ich fühle mich ein bisschen wie der Papst. Ich hätte auch überhaupt nichts dagegen, jetzt in einem gläsernen Auto gefahren zu werden, denn die Beine schmerzen mehr und mehr. Außerdem müsste ich dann diesen seltsamen Geruch nicht mehr einatmen, der seit einer Weile über der Stadt hängt. Was ist das bloß? Anfangs dachte ich, es wäre die Chemie aus den Toilettenhäuschen. Aber die könnte unmöglich so nachhaltig sein. Es riecht chemisch, ein bisschen süß, ein bisschen minzig. Bald habe ich eine Salbe in Verdacht. Die medizinische Versorgung ist großartig, nach jeder Wasserstation kann man Vaseline nachlegen, Pillen einwerfen, sich mit Eisbeuteln schockfrosten und Salbe schmieren. Da die Strecke praktisch eine einzige Wasserstation ist, gibt es auch überall Salbe. Obwohl sich meine Beine am Ende der First Avenue bereits anfühlen wie Bohrtürme, komme ich nicht auf die Idee, mich an einer der Stationen versorgen zu lassen. Ich habe keine Ahnung, was mir helfen könnte, außerdem habe ich Angst, es könnte dadurch schlimmer werden (es wurde schlimmer, ganz ohne Salbe und Eis). 

Also mache ich einfach ein Foto von der Medizinstation. Wenn Paula an ein Titanhalsband glaubt (phiten), kann ich ja wohl auch daran glauben, dass mir das Foto einer Salbe helfen wird. Und weiter geht’s.

Die Willis Ave. Bridge (auch schön) führt hinein in die Bronx. Sie ist mit einem gelben Teppich ausgelegt, um das harte Gitter etwas zu mildern. Der gelbe Teppich sieht mit der grauen Brücke hervorragend aus. Man sollte ihn liegen lassen. 

Am Ende der Brücke erwarten uns Dudelsackpfeifer. Ein Musiker trägt Laufschuhe zum Schottenrock. Solidarität, wohin man schaut. 

Es ist still geworden im Feld. Wir sind jetzt etwa bei Kilometer 32 und auf dem Weg durch die Bronx. Die Zuschauer hier scheinen noch herzlicher und engagierter als andere. Kinderhände strecken uns drei Bonbons hin, manche Anfeurer haben etwas Schokolade kleingeschnitten und halten uns den Teller entgegen. Wie schon in Brooklyn gibt es auch hier Frauen, die Tücher von einer Küchenrolle abreißen, um sie den Läufern hinzuhalten. Tatsächlich ist es angenehm, einmal zu schneuzen oder die verklebte Stirn zu wischen. Die Tücher werden dankbar angenommen. Nie habe ich das in Deutschland gesehen. Hier gibt jeder, was er kann, mindestens ein herzhaftes „You’re looking good!“. 

Fast bedaure ich, dass wir die Bronx verlassen, aber so langsam nach Hause kommen, das wäre mir schon auch recht. Ich dachte, durch meine Fotopausen würde ich zwischen 4:20 und 4:30 brauchen, aber das ist längst nicht mehr möglich. Vor meinem inneren Auge sieht mein rechter Oberschenkel unter der Haut aus wie ein Bündel gerissener Gitarrenseiten. Es tut ungeheuer weh. Ich kann die Beine kaum heben, schleiche immer wieder auf Zehenspitzen. Mein Tempo ist für meine Verhältnisse inzwischen grotesk langsam. Den Abschnitt zwischen km 30 und 35 laufe ich in 41 Minuten. Meine einzige Erklärung ist, dass ich in den letzten zwei Wochen viel zu wenig schlief und die letzten Tage in New York kaum geeignet waren, sich auszuruhen. Trainiert bin ich bestens, noch vor drei Wochen lief ich meine persönliche Halbmarathon-Bestzeit. Sei’s drum – der Marathon ist und bleibt ein Abenteuer. Meine gute Grundkondition verhindert zwar nicht die Schmerzen, hilft mir aber jede Steigung ohne Probleme zu nehmen. Dann muss es eben langsam gehen. 

Die Madison Ave. Bridge (sagte ich schon, dass die Brücken hier schön sind?) ist die letzte Brücke hinein nach Manhattan.

Gleich zu Beginn, in Harlem, treten zwei Rapper auf, die so gut sind, dass ich kurz stehenbleiben muss (die „Is jetzt auch egal-Phase dauert an). Ich mag gar keine Rap-Musik, aber das ist wirklich großartig. 

Und weiter geht’s. Der Central Park ruft schließlich. Noch immer sind die Straßen übersät mit Handschuhen. Auf den ersten Kilometern dachte ich: Bald werden doch wohl alle ihre Handschuhe weggeworfen haben. Aber es hört nie auf. Weißer Handschuh, schwarzer Handschuh, noch ein schwarzer Handschuh, wieder ein weißer Handschuh. Sogar die ganz neuen „Five Borough“-Handschuhe von der Marathonmesse sind dabei. Schade drum, die waren schön. 

So schleiche ich von Handschuh zu Handschuh, während an der Seite immer noch Menschen glauben, ich sei der Papst. „Almost there!“ Donnerwetter, jetzt stimmt es ja sogar! Es ist toll, hier zu laufen. Bergauf ist eine große Erleichterung und bergab gehe ich einfach ein paar Schritte. 

Es wird immer grüner um uns herum und ein paar Verwegene ziehen das Tempo an. Ach, würde es doch noch länger dauern. Ach, wäre es doch schon zu Ende. Körper und Geist sind sich wieder einmal nicht einig. 800 Yards to go. Sagt ein Schild. Wieviel um alles in der Welt sind 800 Yards? Sie machen es einem auch nicht einfach, diese Amerikaner. 

Um mich herum jubelts und kreischts. Jetzt fühle ich mich ein bisschen wie Tokio Hotel. Sie machen’s einem ganz schön einfach, diese Amerikaner. Almost there! 200 Yards. Es stehen schon Flaggen zwischen den Zuschauern. Ich tue so, als könnte ich noch laufen und laufe einfach ins Ziel. Klar heule ich ein bisschen, ich heule immer im Marathonziel. Dieses Mal heule ich vielleicht ein klitzekleines bisschen mehr. 4:57 – wie kann ich nur so langsam gewesen sein? Diese Medaille war wirklich hart erkämpft. Gleich kann man ein Foto machen lassen, damit man seine Frisur mit der auf dem Foto vor fünf Stunden vergleichen kann.

Dann geht alles wie auf einem sehr langsamen Fließband. Wir bekommen eine Folie gegen die Auskühlung und einen bleischweren Picknickbeutel mit Wasser, Gatorade, einem Riegel und einem echten Macintosh Apfel (die Sorte heißt wirklich so). 

Auf einmal ist alles still. Jemand hat den Knopf gedrückt. Niemand brüllt und rasselt mehr. Eine silbern glitzernde Karawane schiebt sich durch den Park. Ein paar Handys werden gezückt, aber die Gespräche sind leise. Ich setze mich kurz auf einen Randstein.

Sofort sind Helfer zur Stelle um darauf zu achten, dass niemand von uns umkippt. Manche tun es trotzdem. Ich wuchte mich wieder hoch, zu groß ist die Sehnsucht nach trockener Kleidung. Die Sonne ist inzwischen verschwunden und ich mag nicht frieren. Siebenundsiebzig UPS Wagen stehen im Park, meiner ist die Nummer 56. Langsam zieht die Karawane. Kaum habe ich trockene Sachen an, geht es mir ausgezeichnet.

Ich bin in New York.


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11 Kommentare

  1. Bis zum Ende gelesen und kein bisschen langweilig. Bekommt man einen guten Eindruck wie das da so ist. Hat ja schon fast Volksfestcharakter. Schöne Bilder!

  2. Hallo Frau Schmitt,ich bin nächstes Jahr beim Marathon in New York. Habe deinen grandiosen Bericht und die tollen Fotos nur so aufgesaugt und bin nun noch aufgeregter als zuvor. Ganz lieben Dank für die Arbeit, die du dir gemacht hast. Ganz, ganz toll!Liebe GrüßeRalf

  3. Hallo Ralf,dankeschön! Da wünsche ich Dir jetzt schon einen tollen Lauf, der NYC Marathon ist einfach unvergleichlich. Have fun!

  4. Hallo,danke für den ausführlichen tollen Bericht ! Allein beim Lesen bekommt Man(n)schon Gänsehaut !!! Deine vielen Tipps werden mir bestimmt helfen wenn ich dieses Jahr in New York laufe ! Einfach nur WOW !!!Liebe GrüßeRalph

  5. Wow! Was für ein Bericht. Ich habe mich köstlich amüsiert beim kompletten Lesen. Sehr annschauliche Darstellung. Kann mir das gut vorstellen, hat mir geholfen für mein großes Vorhaben in diesem Jahr. Ich glaube, dass es mir (bis auf die schmerzenden Oberschenkel, hoffentlich) genauso gehen wird. Ich bin auch emotional so drauf, dass ich eigentlich schon im Startbereich die ersten Tränen vergieße.Dankeschön.Lieben Gruß Dorit

  6. Hej, dein Bericht hat mir so Lust gemacht, in New York zu starten, dass ich ganz sicher im nächsten Jahr dabei bin!! Vielen dank und liebe Grüße, Tati

  7. Liebe Frau Schmitt,ich lief den NYC-Marathon letztes Jahr und stieß heute zufällig auf Deinen Bericht. Obwohl nicht das gleiche Jahr, so zeigen doch alle Deine schönen Bilder meine Erinnerungen und was Du beschreibst, habe ich fast genau so erlebt (außer der Freude beim Bergauflaufen ;-). Es hat mich regelrecht umgehauen! Über die „Trainingsanzüge aus dem frühen Tertiär“ werde ich nächstes Jahr noch lachen!! Vielen Dank dafür!

  8. Susi-die andere Antworten

    Liebe Frau Schmitt,ich liebe Deine Podcasts, die mir das Laufen versüßen. Und in homöopathischen Dosen genossen (es gibt eindeutig zu wenige, deshalb gönne ich mir nur auf langen Läufen einen) bin ich heute erst auf den über den NY-Marathon gestoßen. Ach, war das schön!! Mit den eingespielten O-Tönen kam ich mir selbst vor wie der Papst, obwohl ich doch nur durch Speyers Binsfeld lief ohne auch nur den klitzekleinsten Zuschauer und -jubler. Vor lauter Rührung musste ich trotz großer zeitlicher und räumlicher Entfernung zum eigentlichen Event ein paar Lauftränchen verdrücken. Danke für den schönen Bericht!Wer muss denn noch selbst einen Marathon in New York laufen, wenn er einen solch herrlichen Podcast hören kann… :-)1000 Dank also und herzliche Grüße aus dem oktoberlich nebligen, aber nicht minder schönen SpeyerSusi

  9. Anlässlich des letzten, sehr lieben Kommentars nochmal danke an alle fürs Lesen und Hören. Das erwärmt mein Schreiber- und Podcasterherz sehr!

  10. Super Bericht und mir sind sogar die Tränen gekommen … Wir planen New York für 2012 (dieses Jahr sind wir dort bereits den HM gelaufen) und ich denke dass wird ein großartiges Erlebnis!

  11. Pingback: Das Massenphänomen » Laufen-mit-frauschmitt

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