25 km in Rodgau-Jügesheim (2008)
Es gibt Tage, an denen einfach alles stimmt. Dies ist empirisch bewiesen. Versuchsreihen mit Läufern, die an Tagen liefen, an denen einfach alles stimmte, haben gezeigt: es gibt sie. Die Läufer. Und die Tage, an denen … Sie wissen schon.
Weit weniger bekannt ist jedoch das Phänomen der Tage, an denen nichts stimmt. Gibt es sie? Wie wirken sie sich auf Läufer aus? Stimmt wirklich gar nichts? Oder handelt es sich eher um Mittelnichts bis Wenignichts? Um dieser Frage wissenschaftlich nachzugehen, starten wir eine Versuchsreihe. Die erste zu untersuchende Läuferin gehört der W40 an. Sie ist lauferfahren, motiviert und mittelmäßig bis mäßig trainiert. Wir lassen sie beim Osterlauf in Jügesheim antreten und wollen sehen, ob nichts stimmt, oder etwas und wenn ja, was. Die Bedingungen: 25 km, zumeist auf Asphalt, Temperaturen um den Gefrierpunkt. Bereits in den Vorbereitungen zum Start zeigen sich bei der Probandin, nachfolgend FS genannt, erste Irritationen.
„Zunächst sah alles gut aus. Bei der Anmeldung schwamm man förmlich in Kugelschreibern. Es war die höchste Kugelschreiberdichte, die man jemals bei hessischen Laufveranstaltungen gesehen hat. Auf den Tischen in der Halle standen mickrige, aber wackere kleine Frühlingsblüher in mickrigen aber reizenden Töpfchen. Doch dann wollte ich mich umziehen. Und die Umkleide, in der ich mich seit Jahren umziehe, war von einem grünen Gartenschlauch belegt, der ins Nichts führte. Dadurch ließ sich die Tür nicht schließen und die Umkleide war unbrauchbar.“
FS folgt einem Schild, das weitere Umkleiden ausweist. Sie liegen dieses Jahr in der gleichen Richtung, in der sich auch die Herrenumkleiden befinden.
„Ich zog meinen Kopf ein (denn es waren noch Minus drei Grad) und folgte dem Schild. Am Ende der Straße befanden sich die Herrenumkleiden. Statt der Damenumkleiden fand ich allerdings nur einen Ordner mit orangefarbener Weste. Er schickte mich wieder zurück, die Damenumkleiden seien auf halbem Weg in einer Schule.“
FS trottet frierend zurück und irrt auf dem weitläufigen Schulgelände umher. Weit und breit sind keine anderen Läuferinnen zu sehen. Sie rüttelt an einigen Türen, aber keine öffnet sich. Die Probandin ist frustriert und trägt sich und ihre langsam drückende Lauftasche wieder zurück zum Ordner. Der kann keine genaueren Angaben zur Damenumkleide machen. FS macht sich wiederum auf den Weg, in der Hoffnung, bei der Anmeldung eine weitere Umkleide zu finden.
„Auf dem Weg zurück entdeckte ich eine Frau, die auf das Schulgelände einbog. Ich beschloss, ihr zu folgen, in der Hoffnung, sie würde wissen, wo die Umkleide lag. Plötzlich war sie verschwunden. Irgendwo musste eine offene Tür sein. Ich ging weiter und weiter und entdeckte ganz hinten ein Schild. Endlich hatte ich die Umkleide gefunden. Außer uns beiden war niemand hier. Die Frau erzählte mir, jemand vom Verein hätte ihr den Weg gewiesen, sie hätte die Umkleide sonst nie entdeckt.“
Hier zeigen sich erste Anzeichen eines Tages, an dem nichts stimmt. FS hat obendrein schlecht und wenig geschlafen, da sie am Abend spät von einer Familienfeier heimgekehrt war. Als die Probandin am Start steht, ist sie dennoch optimistisch.
„Trotz schlechter Wettervorhersage schien die Sonne. Es war kalt, aber schön. Die Atmosphäre war, wie immer in Jügesheim, freundlich und angenehm.“
Die ersten Kilometer verlaufen ohne größere Zwischenfälle. FS trifft bald einen Läufer, mit dem sie bei ihrem letzten Volkslauf in Friedberg plauderte.
„Ich lief so vor mich hin, da hatte ich auf einmal ,Woherkommstndu‘ an meiner Seite. Ich wusste schon, dass ,Woherkommstndu‘ aus Bensheim kommt und so redeten wir dieses Mal über andere Dinge. Eigentlich wollte ich aber gar nicht reden. Auch das kostet ja Energie. Und ich wollte auch lieber ein bisschen langsamer laufen. Aber da war diese schöne Sonne und ich dachte, es wird schon gehen.“
Nach wenigen Kilometern bremst die Probandin doch lieber etwas und lässt ihren Mitstreiter ziehen. Noch zeichnet sich nicht ab, wie wenig an diesem Tag stimmt.
„Ich trank etwas von dem warmen Iso-Getränk, aber nicht zu viel, weil ich mit meinem Magen etwas aufpassen muss. Nach einer Weile riss ich mir meine Startnummer versehentlich vom Band. Weil es nicht anders ging, blieb ich ganz kurz stehen, um sie wieder zu befestigen. Es irritierte etwas, aber nun gut. Die Strecke ging über Feld und durch den Wald. Immer wieder sah ich eine kleine alte Dame, die mit ihrem Fahrrad an verschiedenen Punkten der Strecke auftauchte. Das macht sie immer und ich habe immer noch nicht herausbekommen, wie sie so schnell von A nach B kommt, ohne an den Läufern vorbeizufahren. Die Zauberomi motivierte mich und ich hielt einen Schnitt von 5:30 pro Kilometer.“
Das Tempo ist zu schnell für FS und ihren Trainingszustand, sie ahnt, aber verdrängt es. Nach 12,5 Kilometern kommt der Wendepunkt. Für die Strecke und für die Lage der Probandin.
„Ich finde Wendepunktstrecken toll, man hat im Gegenverkehr viel zu gucken. Jemand rief meinem Hintermann zu: Da kommt ja der lahme Thorsten! Ich fand das witzig. Bis der lahme Thorsten an mir vorbeilief und ich dachte: jetzt bist Du lahmer als der Lahme. Tatsächlich wurde ich immer langsamer. Seit einiger Zeit hatte ich ein bisschen Schwierigkeiten mit dem Großzehgrundgelenk am linken Fuß, das begann jetzt zu schmerzen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, falsch und seltsam abzurollen. Der Fuß fühlte sich steif an.“
Für FS begann es unrund zu laufen. Doch die wirklichen Probleme sollten noch kommen.
„Als wir aus dem Wald kamen, war die Sonne auf einmal weg und es war windig. Ich hatte ordentlich geschwitzt und jetzt fühlte ich mich trotz bester Kleidung kalt und klamm. Der Wind kam scharf von der Seite und mein kalter Oberarm tat richtig weh. Ich fühlte mich zwischen den Schulterblättern vollkommen verspannt. Als wäre das nicht störend genug, bekam ich plötzlich Magenkrämpfe. Es war die Sorte Krämpfe, bei denen man glaubt, sofort ein Örtchen aufsuchen zu müssen. Aber hier war ja kein Örtchen. Hier war überall nur Ort.“
Die Probandin kämpft inzwischen an verschiedenen Fronten. Der Fuß plagt, das klamme Gefühl macht lockeres Laufen unmöglich und der Bauch kneift und peinigt. FS überlegt sogar, kurz in die Büsche zu gehen. Sie kommt davon ab, weil es keine gibt.
„Ab Kilometer 20 war an normales Laufen nicht mehr zu denken. Immer wieder ging ich ein paar Schritte, wenn die Krämpfe zu stark wurden. Dann lief ich wieder weiter und dachte: ins Ziel gekommen bist Du noch immer. Mädchen mit um die Hüfte geknoteten rosa Tchibojacken liefen an mir vorbei. Das war viel schlimmer als der lahme Thorsten.“
FS arbeitet sich mit schleppendem Schritt vorwärts. Die Magenprobleme haben inzwischen die anderen Ärgernisse überdeckt. Die Frage nach dem zu untersuchenden Thema beantwortet die Probandin eindeutig:
„Kurz vor dem Ziel traf ich einen Bekannten. Ich sagte: Heute stimmt einfach nichts! Und genau so fühlte es sich an. Noch nie waren bei einem Lauf dieser Distanz die letzten Kilometer so schwer. Noch nie war ich so langsam. Zwischen meiner Bestzeit aus dem letzten Jahr und diesem Lauf liegen 16 Minuten. Am Ende war sogar die Moral am Boden. Es stimmte einfach gar nichts. Bei der Siegerehrung brüllte es etwa 30 Mal ,Stand up for the champions‘ aus den Lautsprechern, dabei war mir eher danach, mich hinzulegen.“
Das Phänomen des Nichts-stimmt-Laufes ist also real. Es erscheint abschließend schlüssig, warum Alles-stimmt-Läufe die besser untersuchten sind: sie machen einfach mehr Jux. Beiden gemeinsam ist die ebenso belohnende, wie tröstende Wirkung eines Backwerks aus den Händen hessischer Hausfrauen.
© Titelbild RominaBM – pexels.com
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