Der 15 km Lindenseelauf in Rüsselsheim.
Deutschland im November. Zum Auswandern. Überhaupt Deutschland. Regen, immer nur Regen. Und grau und trist. Und alle sind depressiv und essen schon seit August Lebkuchen gegen die Depression. Nur wegen des Wetters. Das weiß doch jeder. Dabei ist es in Wirklichkeit frei erfunden.
Seit Jahren laufe ich im November in Rüsselsheim den Lindenseelauf mit. Geregnet hat es noch nie. Ich laufe auch die Winterlaufserie in Hofheim-Lorsbach, beinahe alle zwei Wochen, den ganzen Winter hindurch. Es regnet selten. Manchmal schneit es und das ist schön. Von meinen über 160 Volksläufen sind mir etwa eine Handvoll im Gedächtnis geblieben, bei denen es regnete. Ich kenne wenige Läufer, die hartnäckig über das Wetter jammern. Vielleicht, weil sie wissen, dass sie, übers Jahr gesehen, ihren Regenläufen eine Unmenge Sonnenläufe entgegensetzen können. Und dass gegen Depressionen kein Lebkuchen der Welt helfen kann – wohl aber laufen.
Heute laufe ich in Rüsselsheim. Es ist November, es sind 15 Grad und die Sonne scheint. Und nicht einmal die Architektur von Rüsselsheim könnte mich zum Auswandern bewegen. Bevor es los geht, mache ich in der Sporthalle der Albrecht Dürer Schule ein paar Fotos. Ich mag die seltsamen Schilder und Zettel in Schulen. Auf denen Hausmeister nicht mehr Hausmeister genannt werden, sondern „Gebäudemanager“. Und ich mag die interessante Atmosphäre eines improvisiert wirkenden, aber doch gut durchorganisierten Events.
Manchmal begegnet mir auf einer solchen Volkslauf-Fotosafari deutliches Misstrauen. Warum ich die Fotos mache? Und für wen? In Nidderau wurde ich einmal gebeten, keine Fotos der Verpflegungspreisliste zu machen (Kaffee: 0,80 €, Kuchen 1 €), mit der Begründung, ich könnte etwas „für die Konkurrenz ausspähen“. Auch in Rüsselsheim ist man skeptisch. „Machen Sie damit Werbung?“ fragt man mich. „Ja“, sage ich, „für den Lauf.“ Das wird erst einmal nicht geglaubt. Möglicherweise geht die Vermutung dahin, ich könnte das Foto eines Vereinslaufshirts (das heute zum reduzierten Preis von 1,50 € angeboten wird) bei ebay verkloppen und damit richtig Asche machen. Dabei ist darauf ein Elefant abgebildet („Rüssels-heim“!) und ich kenne leider nur wenige Läufer, die sich mit einem Tier identifizieren, dass 7.000 Kilo wiegt. Aber lustig ist das T-Shirt schon, das muss ich zugeben.
Wir treffen nette Menschen und das Wetter wird immer besser. Noch besser. Wir tragen kurze Hosen und ich bin froh, dass ich an meine Sonnenbrille gedacht habe. Doch dann, beim Einlaufen, bemerke ich etwas zutiefst Unangenehmes. Ich trage eine Unterhose des Verderbens. Durch eine Asynchronität im Waschrhyhtmus stand mir heute morgen nicht die Unterhose des himmlischen Friedens zur Verfügung, die ich sonst bei Volksläufen am Liebsten trage. Sie ist von Falke und wurde mir bei der New Yorker Marathonmesse aufgeschwatzt, als ich in einem Zustand wirtschaftlicher Unzurechnungsfähigkeit war. Sie ist großartig und jetzt vermisse ich sie schmerzlich. Unterhosen des Verderbens haben die Eigenschaft, sich nicht sofort als solche erkennen zu geben. Man kann mit ihnen problemlos den Alltag bestreiten – bis man versucht, mit ihnen zu laufen. Dann beginnt ein verzweifelter Kampf, dessen Sieger von vorneherein feststeht. Das Übelste an dem verabscheuungswürdigen Textil ist, dass es seinen eigentlichen Job völlig außer Acht lässt. Anstatt die Pobacken ordentlich zu bedecken, bewegt es sich in Regionen, die es überhaupt nichts angehen. Es gibt Wanderbaustellen und Wanderheuschrecken. Aber das ist alles nichts gegen eine Wanderunterhose. Und genau eine solche Plage habe ich heute am Hals. Bzw. am Hintern. Nein, schön ist das nicht.
Der Wald ist hier wie eine riesengroße Aschenbahn. Entsprechend schnell kann man laufen. Wenn man kann.
Wir schreiten zum Start und ich versuche, nicht weiter an Bekleidungsfragen zu denken. Statt dessen denke ich an den Song „Ain’t no mountain high enough“, der mir komischerweise seit heute morgen nicht mehr aus dem Kopf geht. Dabei gibt es hier überhaupt keine Mountains. Nach einem kurzen Stück durch den Ort landet man im Wald. Der Wald an sich ist im Grunde ein ganzjähriges Läuferglück. Im Frühjahr sieht man hier die erwachende Natur, im Sommer ist es nicht so heiß, im Winter vergisst man im Wald alles andere und im Herbst ist der Wald sowieso der allergrößte Hit. Auch in Rüsselsheim gibt es überall blätterbedeckte und gerade Wege, die „Belauf mich, belauf mich!“ rufen. Gelegentlich kommt zwar ein tief hängender Flieger vorbei, aber da ich nicht hier wohne, empfinde ich ihn eher als Unterhaltungsprogramm. Nach einem Kilometer zieht eine junge Frau vor mir ihre Jacke aus und bindet sie sich um die Hüften – eine Gewohnheit, die ich normalerweise höchst albern finde (dass die Jacke zu warm ist, hätte man auch beim Einlaufen mühelos feststellen können). Jetzt bin ich aber fast ein bisschen neidisch. Hätte ich jetzt auch eine Jacke, wäre ich sicher, dass niemand Zeuge meines Kampfes mit der Unterhose des Verderbens werden kann. Nicht dran denken, Frauschmitt, einfach nicht dran denken.
Die Wege sind wirklich ein Traum. Es gibt kaum Wurzeln, wenig Schottersteinchen oder Tannenzapfen. Der Wald ist hier wie eine riesengroße Aschenbahn. Entsprechend schnell kann man laufen. Wenn man kann. Ich kann ja nicht so richtig, weil ich mich erst aus meinem mehrmonatigen Trainingsloch arbeiten muss. Noch immer laufe ich viel zu wenig. Heute fühle ich mich allerdings ganz passabel. Wäre da nicht … aber ich will nicht klagen.
Ich wähle ebenfalls eine entschlossene Gangart und so fegen wir an einem Läufer nach dem anderen vorbei. Wiedersehen macht hier bekanntlich keine Freude und so hoffe ich inständig, dass meine Kühnheit nicht bestraft wird.
Nach wenigen Kilometern läuft eine Dame in knallrosa neben mich. Sie hat einen entschlossenen Schritt und das gefällt mir. Vielleicht kann ich ja dranbleiben. Ich wähle ebenfalls eine entschlossene Gangart und so fegen wir an einem Läufer nach dem anderen vorbei. Wiedersehen macht hier bekanntlich keine Freude und so hoffe ich inständig, dass meine Kühnheit nicht bestraft wird. Immerhin laufe ich jetzt schon mehrere Kilometer im Tempo von 5,1 min/km. Wir laufen an eine Dame heran, die ein ebenso knallrosafarbenes Oberteil trägt, wie meine Pink Lady. Vielleicht hat man das jetzt ja. Wir überholen sie, wie viele andere auch, doch das sieht die Dame gar nicht ein. Sie gibt Gas und setzt sich wieder vor mich – um danach deutlich abzubremsen. Wer geglaubt hat, diese Verhaltensweise sei nur etwas für selbstwertarme Handelsvertreter auf Autobahnen, dem sei gesagt, dass auch harmlos aussehende Frauen zu solchen Idiotien fähig sind. Ich muss stark abbremsen und komme völlig aus dem Rhythmus, weil ich danach wieder anziehen muss, um um die Dame herum zu laufen. Ganz und gar unnötig.
Pink Lady und ich ziehen unseres Weges. Doch dann fällt sie plötzlich leicht zurück. Ihren Platz nimmt eine andere Läuferin ein, die eine Jacke um die Hüften trägt. Beinahe möchte ich sie fragen, ob sie eine Unterhose des Verderbens trägt, aber ich lasse es lieber. Das Tempo ist jetzt etwas langsamer geworden, aber ich bin sehr zufrieden. Schon lange war ich nicht mehr in einem solchen Tempo unterwegs und ich freue mich, dass es möglich ist. Pink Lady hat jetzt wieder zu uns aufgeschlossen und macht einen erholten Eindruck. Eine Verpflegungsstelle gibt es nicht, aber manchmal gelingt das ja auch so. Bei einem kleinen Anstieg an einer Brücke hat sie schließlich genug von ihren Begleiterinnen: sie gibt plötzlich Gas. Bis ins Ziel werde ich sie sehen können, sie kommt nicht so richtig weg. Aber ihr kleiner Zwischenspurt macht, dass ich sie nicht mehr einholen kann. Respekt. Dann bleibt mir nur, die Jackendame abzuschütteln. Man muss sich ja immer kleine Ziele setzen, die einen bei der Stange halten. Ich setze mich vor sie und spüre fortan ihre Gegenwart. Es gibt keine bessere Methode, um nicht nachzulassen. Doch dann überholt mich ein älterer Herr und liefert mir damit noch ein weiteres Ziel: Am Ende genug Luft für einen Konter zu haben. Wir kommen aus dem Wald und ich kann schon den Kuchen riechen. Und noch immer höre ich die Jacke hinter mir. Ich klappe den Mund weit auf und schalte auf Turbo. „Ain’t no mountain high enough“ begleitet mich. Es gelingt. Ich lasse den Herrn und die Jacke hinter mir. 1:18:41. Heute reicht das für den 7. AK-Platz von 20. Vor zwei Jahren war ich sechs Minuten schneller. Aber mit einem vielfachen Trainingspensum. Ich bin vollkommen zufrieden. Die Unterhose des Verderbens habe ich auf den letzten Kilometern total vergessen. Mein Trainingspartner hat ebenfalls sein Ziel erreicht: Er hat seinen ehemaligen Briefträger abgehängt, der vor Jahren aus gesundheitlichen Gründen in Frührente ging und jetzt auf hohem Niveau Volksläufe bestreitet.
Wir treffen uns in der Halle zum obligatorischen Kuchenfassen und alles, was meine Stimmung jetzt noch trüben könnte, wäre die Tatsache, dass mein Trainingspartner einen Jahrhundertkuchen erwischt, wohingegen ich mit einem eher trockenen Backwerk vorlieb nehmen muss. Aber nicht einmal das stört mich.
Für die Siegerehrung brüllt der Moderator in ein Mikro, dass es nur so scheppert. Ich will gerade eine der Boxen mit dem Lautsprecher nach hinten drehen, als der Strom ausfällt. Erleichterung stellt sich im Publikum ein. Wir sitzen im Halbdunkel (es ist schließlich später Nachmittag), denken an den Advent und gar nicht mehr an den Moderator, bis der versucht, die Siegerehrung mit einem Megafon fortzusetzen. Doch dann geht der Strom wieder an – und sofort auf magische Weise wieder aus. Das Prozedere wiederholt sich mehrere Male und wir freuen uns an soviel Entertainment. Fieberhaft wird an der Ursache geforscht.
Ich mache im Dunkeln ein paar Fotos und lasse meinen Blick über die Prämien der Tombola schweifen, als ich plötzlich wie vom Donner gerührt stehen bleibe. Ich weiß jetzt, warum der Strom ausfällt. Es ist Sabotage. Von Geisterhand. Ein seltsames Lebewesen, nicht Mensch, nicht Tier, hat sich dem Stromkreis bemächtigt. Ich weiß es, ich kann es spüren.
Es ist: das Alpenveilchen des Grauens.
Mit diesem Wissen können wir jetzt nach Hause fahren. Dort angekommen setze ich mich an den Computer, höre „Ain’t no mountain high enough.“ und fühle mich verknallt.
Dabei war ich nur Laufen.
Entdecke mehr von Laufen mit Frauschmitt
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5 Kommentare
Wunderbarer Bericht. Dankeschön und Glückwunsch
Unterhose des Verderbens… ich schmeiss mich weg!
jetzt habe ich vor lauter Fotos den Bericht nicht gelesen, ich sollte mich was schämen.Mach ich aber nicht 😛 und sage Danke für etwas Kurzweil, während mir Marvin und Partnerin ins Ohr flöten: Ain’t no mountain high enough. Motown lebt!
Frau Schmitt, Deine Warhnehmung der Welt ist einfach klasse! Kein Wunder, dass bei den schräg-toll-lustig-informativen Berichten inclusive Rezepten so mancher das „Ich will ein Kind von Dir!“-Schild hochhält!
Danke für den schönen Bericht! Diese kleinen Veranstaltungen haben ihren ganz eigenen Charme und Artikel wie dieser machen Lust drauf 🙂