Der Halbmarathon in Nidderau-Eichen. (2010)
Die meisten Volksläufe in Deutschland gibt es im Süden Hessens. Das stand so vor ein paar Jahren zumindest bei Spiegel online. Während in anderen Gegenden der Republik also gelegentlich Volkslaufosteoporose herrscht, eine Löchrigkeit im Jahreskalender, ist die Volkslaufdichte in meiner Heimat beeindruckend. Die Kehrseite der Auswahl ist die Entscheidungsnot. An diesem Wochenende könnte ich Samstags in Nidderau-Eichen einen Halbmarathon laufen und Sonntags den 25km Mainuferlauf in Seligenstadt oder den Feldberglauf. Alle drei sind tolle Läufe. Samstags UND Sonntags einen zu laufen ist mir unmöglich. Für ein heiteres Auslaufen sind weder der 25er noch der Berglauf geeignet. Mein Trainingspartner und ich wählen Nidderau. Der Halbmarathon ist lang genug, um sich auszupowern und dabei angenehm genug, um Spaß zu haben. Von allen drei Läufen ist er der kleinste und abgelegenste. Ein Schnuckelchen.
Nidderau-Eichen leistet einen wackeren Beitrag zur Volkslaufdichte der Region, hier finden nämlich gleich zwei Volksläufe im Jahr statt. Den einen veranstaltet die Freiwillige Feuerwehr, den anderen ein Sportverein, der TV Windecken. Der Wald in Nidderau ist groß und schön genug, um zwei unterschiedliche, attraktive Strecken zu zimmern. Auf „profilierter Strecke“. Wo die Strecke schon profiliert ist, kann man sich als Läufer nicht mehr profilieren und das beruhigt. Man kann es langsam angehen lassen. Es ist Samstag Nachmittag und irgendwer hat eine Sonnenattrappe eingeschaltet. Es sieht aus wie Sonne, wärmt aber nicht. Nidderau war bereits mehrere Jahre der sonnenreichste Ort Hessens. Bestimmt wegen der Attrappe. Nervös hüpfen die Läufer am Sportlerheim auf und ab und wissen nicht, was sie anziehen sollen. Das Auge sagt „kurz“, das Gefühl sagt „brrrrr“. Die Startnummer in Nidderau kommt ohne Sponsorenaufdruck aus und hat deshalb ausnahmesweise einmal nicht das Format eines Kuchenblechs. Die wärmt also schon mal nicht.
In der Umkleidekabine liegen Sportschuhe im Papierkorb und ich bilde mir ein, sie dort schon einmal gesehen zu haben. Vielleicht ist es eine Dauerinstallation.
Eines Tages werde ich vielleicht einmal eine Umkleidekabinen-Fotoserie machen. Umkleiden bei Volksläufen bilden ein wahres Kuriositätenkabinet. Sie sind kalt und muffig, fensterlos und eng. Sie haben mit Glück eine einzige Steckdose und halbblinde Spiegel, in denen man aussieht wie Gemälde von Picasso. Aus ihren Duschen tröpfelt ein arktisches Rinnsal, Toiletten sind selten vorhanden und wenn, dann ist es eine Kabine, deren Tür nicht mehr richtig schließt und deren Spülkasten auf Druck die Wassermenge vom Volumen eines Cognacschwenkers freigibt. Davor stehen 47 Frauen. So ist das beinahe immer.
Ich werfe meine Tasche in die Ecke und starre neidisch auf die Beine einer Spinne, die hier wohnt. Die hat’s gut. Kann schnell rennen und hat nie Muskelkater. Und muss sich nicht mit solchen Albernheiten herumschlagen wie ¾-Hosen. Ich probiere heute das erste Mal eine zum Laufen aus, sonst ziehe ich sie nur zum Rudern an. Eigentlich finde ich die Dinger doof, aber noch doofer wäre es, immer noch lange Hosen tragen zu müssen. Die kann ich einfach nicht mehr sehen.
Wir laufen uns ein und wie immer bei Nachmittagsläufen bin ich ganz durcheinander. Vorm Lauf zu essen ließ sich hier nicht vermeiden und ich hoffe, dass der zeitliche Abstand ausreicht. Mein Magen läuft lieber leer. Überall im Wald sind Sägespäne aufgestreut, die auf die Strecke hindeuten, auch der Start ist einfach aufgestreuselt. Kein Transparent, keine Zeitnahme deutet daraufhin, dass hier gleich Großes stattfindet. Das liegt daran, dass das Ziel an einer anderen Stelle ist, als der Start. Aha! Erst starten die 5km Läufer, aber da wir mal wieder nicht richtig aufgepasst haben, halten wir sie für 10er. Danach kommen wir. Der Halbmarathon heißt „Ralf Pagels Gedächtnislauf“. Ich weiß leider nicht, wer Ralf Pagels war. Bei Google findet sich in erster Linie ein Wasserbettenverkäufer ähnlichen Namens, der wird es wohl nicht sein.
„Der Berg ist vorbei, jetzt angreifen!“ ruft der Streckenposten und ich vermute, er tut es, um sich ein bisschen zu belustigen. Weder ist der Berg wirklich vorbei, noch mag ich bei km4 angreifen. Wen auch?
Das Feld des Halbmarathons ist klein, etwa 150 Läufer machen sich auf den Weg. Es dauert nicht lang, da geht es auch schon bergauf. Da ist es schon, das Profilierte am Streckenprofil. Ich bin hier länger nicht mehr gelaufen, deshalb habe ich das Profil nicht im Kopf. Ich versuche einfach vorsichtig zu laufen. Es geht mir gut und die Sonnenattrappe ist gut für’s Gemüt. Der Wald riecht phantastisch. Überall ist frisches Holz geschlagen. Und überall liegen Pfeile aus Sägespänen. Verlaufen unmöglich. Ein Mädchen mit einer roten Jacke überholt mich und setzt sich vor mich. Sie drosselt ihr Tempo und ich sitze ihr fast in den Hacken. Volkslaufen ist manchmal ein bisschen wie auf der Autobahn. Es gibt immer diese Dussel, die sich nicht vorstellen können, was hinter ihnen passiert. Ich laufe neben die rote Jacke, damit ich sie nicht am Ende noch trete. „Der Berg ist vorbei, jetzt angreifen!“ ruft der Streckenposten und ich vermute, er tut es, um sich ein bisschen zu belustigen. Weder ist der Berg wirklich vorbei, noch mag ich bei km4 angreifen. Wen auch? Ich habe doch noch gar keinen Überblick. Mich überholt ein sehr schwerer, großer Mann, der nach Leberwust riecht. Keine Ahnung, wie er das hinbekommt. Es ist eindeutig Leberwurst. Grobe Pfälzer. Ich lasse ihn besser mal davonziehen. Mein Magen reagiert ohnehin schon etwas verblüfft darauf, dass er mit Inhalt laufen soll. Obwohl meine Mahlzeit über 3 Stunden zurückliegt, kneift es mal hier und mal dort. Schon bald gibt es etwas zu trinken und heute greife ich gern zu. Vielleicht hat mich die virtuelle Leberwurst durstig gemacht. Ich schüttle die rote Jacke ab und schiebe mich weiter bergauf.
Überall zwitschert es und winzigkleine hellgrüne Blättchen tun so, als wären sie schon erwachsen. Es ist sowas von Frühling. Der Weg im Wald ist für mich völlig undurchsichtig. Die Schneisen verlaufen nicht gerade sondern schief und krumm und sie haben attraktive, langgezogene Kurven. Es ist immer wieder toll, auf einer fremden Strecke zu laufen, sich aber um nichts kümmern zu müssen. Eine Zeitlang laufen vor mir drei Triathleten, die sich über Trainingslager, Laservermessung und alles mögliche unterhalten, bergauf, als wäre es nichts. So etwas verblüfft mich immer wieder. Aber dann zieht sich das Feld weit auseinander, auch die drei Hörbücher auf Beinen verschwinden aus dem Blickfeld. Mein einziger Fixpunkt ist ein grünes T-Shirt, das Frau und Kinder an der Strecke bergüßt. Nach einem kleinen Asphaltstück geht es einen verwunschenen Waldpfad entlang. Mal wieder bergauf. Bergabpassagen gibt es natürlich auch, aber sie sind nie lange und besonders erholsam. „Das sieht sehr gut aus“ sagt ein Streckenposten und ich finde es schön, selbst wenn es gelogen ist. Von Zeit zu Zeit kommen mir 10 km Läufer entgegen, was ich nicht verstehe, weil ich ja denke, dass sie vor mir gestartet sind. Rolf Gerhard Klos ist wieder dabei, der in der M80 startet. Ich hoffe, dem ruft man auch zu, dass er gut aussieht. Das wäre nämlich gar nicht gelogen. Herr Klos sieht großartig aus.
Oh Mann, ist das schrecklich knapp. Vielleicht geht es doch. Meine Lunge macht schon komische Geräusche. Ich öffne den Mund ganz weit, bilde mir ein, es würde helfen.
Langsam wird es Zeit, sich über eine mögliche Zielzeit Gedanken zu machen. Unter 2 Stunden, das wäre schon schön. Aber das ist derzeit schon die Zielzeit für einen flachen Halbmarathon. Wie soll das bei diesen Steigungen gehen? Die 10 km habe ich nach knapp 57 Minuten passiert. Und ich weiß nicht, was noch kommt. Wie viele Steigungen lauern noch vor dem Ziel? Ein paar der Menschen, die mich vorhin überholt haben, habe ich inzwischen schon wieder eingesammelt. Auch an der Leberwurst bin ich vorbeigezogen. Jetzt arbeite ich an dem grünen T-Shirt. Aber erst nochmal trinken. Boah, tut das gut. Weiter geht’s. Zack, das grüne T-Shirt ist kassiert. Das war ja einfach. Die nächsten km verbringe ich mit laufen und rechnen. Ich muss unter die letzten drei Kilometer unter 5:30 bleiben, dann kann es gelingen. Das versuche ich. Man muss es immer wenigstens versuchen. Bei km 19 scheint es aussichtslos. Das schaffe ich niemals. Jetzt beutelt mich die Moral. Es tut schon mächtig weh und ein wippender Pferdeschwanz zieht an mir vorbei. Unmöglich, dranzubleiben. Ich schaffs nicht. Wenn ich’s eh nicht schaffe, warum quäle ich mich dann noch? Ich könnte jetzt ganz gemütlich ins Ziel traben. Ich schaff es eh nicht. „Noch 700 Meter“ ruft der Streckenposten und ich schaue wieder auf die Uhr. Oh Mann, ist das schrecklich knapp. Vielleicht geht es doch. Meine Lunge macht schon komische Geräusche. Ich öffne den Mund ganz weit, bilde mir ein, es würde helfen. Von weitem sehe ich die Zeitnahme. Wieder der Blick auf die Uhr. Noch ist es möglich. Versuch’s. Mach einen Spurt. Ich gebe Gas und rausche ins Ziel. Die Uhr sagt: 1:59:54. Hätt ich mich ja gar nicht so hetzen müssen. Ich hätt ja noch 5 Sekunden Zeit gehabt.
Ich bin völlig im Eimer. Sofort wird es eiskalt und wir sehen zu, dass wir schnell ins Warme kommen. Ich schleppe mich zu meiner Spinne und erzähle ihr von meinen Abenteuern. Sie nickt anerkennend und verweist mich darauf, dass die Duschen heute heiß sind.
Zum Kuchenbuffet muss man sich anstellen. Eine der Kaffeemaschinen hat sich verabschiedet und so wird der Kaffee streng rationiert. Jeder kriegt nur eine halbe Tasse.
Wir mümmeln unseren Kuchen, während es immer kälter wird. Nicht etwa nur Windjacken-kalt, sondern Rote-Nasen-kalt. Wir bibbern der Siegerehrung entgegen, denn mein Trainingspartner ist zweiter seiner AK geworden.
Dafür bekommt er eine Urkunde, ein Ladegerät und Batterien. Mit denen man alles machen kann, außer sie in das Ladegerät zu stecken. Sie sind nicht wieder aufladbar. Vielleicht mache ich irgendwann auch einmal eine Serie über die schönsten Volkslauf-Geschenke.
Entdecke mehr von Laufen mit Frauschmitt
Subscribe to get the latest posts sent to your email.
10 Kommentare
Die laufende Leberwurst, die hat’s mir angetan. 🙂 Ich habe selten beim Lesen so gelacht. Toller Bericht!
Die Berichte sind immer genial – aber der hier ist besonders genial. Große Literatur, jeder Satz ein Kunstwerk!
Ach, das ist wieder ein schöner Bericht von einem Lauf in einem Ort, von dem ich noch nie gehört habe.Jörg
Vielen Dank für den netten Bericht. Und Gratulation zur guten Zeit so früh im Laufjahr!Viele Grüße,Christian
hey liebe frauschmitt, das ist wirklich wieder phantastisch geschrieben und bedarf eigentlich keines kommentars, außer: die ohren haben permanent besuch von den mundwinkeln beim lesen. schön. Nun wünsch dir weiterhin viele schöne volksläufe in diesem jahr und uns die schönen berichte! auf die zeit bin ich sehr neidisch, noch lieg ich drüber, aber irgendwann in diesem jahr … ich geb die hoffnung nicht auf!schöne grüße aus berlin, wo die ersten kirschblüten seit montag endlich das läuferauge erfreuen!! man glaubts kaum nach diesem winter, die kirschbäume habens überlebt, wie wir auch …claudia
„1:59:54. Hätt ich mich ja gar nicht so hetzen müssen. Ich hätt ja noch 5 Sekunden Zeit gehabt.“ Hahaha! Danke für die gute Unterhaltung
Eins der Dinge, die mich an Läufern fasziniert, ist, dass sie IMMER irgendetwas albern finden. Bei dir sind es also die Dreiviertelhosen. Das geht ja noch :-)Dank für die wie immer tolle Unterhaltung! (Brauch ich schon nicht selber volkslaufen…)
Alleine für das Wort „Volkslaufosteoporose“ sollte man Dich für den Pulitzer-Preis nominieren.Großartiger Bericht!Gruß aus HamburgSteffen
An den Eimer mit Schuhen gehört ein Schild „Ist das Kunst oder kann das weg?“ Schöner Bericht! Ich lese mich jetzt mal durch deine Hessen- Laufgeschichten, vielleicht ist da ja ne nette Veranstaltung bei, die ich von Töchterchen aus gut erreichen kann.
Pingback: Der Halbmarathon Nidderau Eichen 2013 » Laufen-mit-frauschmitt