Der 6. Lufthansa Halbmarathon in Frankfurt.

Wer den Frankfurter Halbmarathon nicht kennt, dem sei er hier in dürren Worten skizziert: früher war er gut, dann wurde er doof, heute ist er wieder gut. Alles drei liegt an der Strecke, besser: an den drei Strecken, die in Frankfurt schon mal Halbmarathon hießen oder heute heißen. Die Resonanz war über die Jahre, unabhängig von der Strecke, ungebrochen gut, was an dem typischen „Läufer-BSE“ liegt (siehe auch hier). Kaum ist eine Strecke belaufen, hat man sie auch schon vergessen und mit ihr all die damit verbundene Pein.

Ich will mich deshalb auch gar nicht lange mit Beschreibungen des Kurses aufhalten – viel wichtiger ist ohnehin die gefühlte Strecke. Die gefühlte Strecke ist so etwas wie die gefühlte Temperatur: ein Empfinden, was sich mit Zahlen (etwa Höhenmetern und Kilometern) nur unzureichend beschreiben lässt. Verantwortlich für die Bewertung der gefühlten Strecke ist der so genannte MFF, der Mentale Fies-Faktor. In ihm wird alles zusammengefasst, was die Strecke stellenweise gefühlt fies sein lässt. Zum Beispiel ein Abschnitt, der unmittelbar neben dem Ziel liegt. Eigentlich wäre man schon da, aber dann muss man doch noch einmal kilometerweit daran vorbei oder drumherum laufen. Oder die Strecke ist so aufgebaut, dass alle Steigungen am Ende kommen. Oder es geht eine Weile so stur geradeaus, dass man sich einbildet, es ginge bergauf, obwohl das gar nicht stimmt. Oder die Getränkestelle ist nicht da, wo man sie – mental gesehen – am meisten braucht. Es gibt unzählige dieser Dinge. Die vorherige Strecke des Frankfurter Halbmarathons hatte eine Menge davon. Ich würde sagen, MFF 9 von 10. Heute liegt der MFF allenfalls bei 4.

Das kommt mir natürlich entgegen, zumal mein Trainingszustand gerade elendiglich ist. In den letzten Wochen hatte ich wenig Training, wenig Schlaf und dafür viel von vielem, was Menschen zu Schnecken werden lässt. Aber zum Glück bin ich kein Frosch und laufe trotzdem mit. Mein Trainingspartner laboriert noch an einem widerspenstigen Knie herum und so schleppe ich mich allein zum Frankfurter Stadion. Früher hieß es „Waldstadion“. Doch dann baute man es um in ein griechisches Amphitheater und nannte es „Commerzbank Arena“. In der Commerzbank Arena werden heute regelmäßig Tragödien aufgeführt, in der Hauptrolle die Frankfurter Eintracht. Heute dürfen wir Läufer in die Arena einlaufen, und das, obwohl das Stadion gar keine Laufbahn mehr hat. Schön ist das.

Ich melde mich an und suche wie alle anderen nach einem Stift. Auch hier greift wieder das Läufer-BSE. Obwohl es bei Anmeldungen immer zu wenig funktionierende Stifte gibt, steckt nie jemand zuhause einen in die Sporttasche. Man vergisst es einfach sofort wieder. Ich treffe nette Menschen und wir reden über die üblichen Sachen, über die Läufer vor einem Lauf reden. Schlaf, Essen, Schuhe, Kleidung. Existentielles eben. Die Damen dürfen sich in der Wintersporthalle umziehen. Dazu muss man zwar ein Stückchen dorthin laufen, aber dafür hat man hier Platz. Der Veranstalter bekommt auf diesem weitläufigen Terrain die über 3.000 Teilnehmer gut in den Griff.

Am Start treffe ich meinen Freund Jörg und schon wieder weitere nette Menschen. Jörg begleitet heute eine Freundin, die von ihrem 17-jährigen Sohn und dessen Kumpel herausgefordert wurde: wer zuerst im Ziel ist, gewinnt die Wette. Viel Lauferfahrung haben beide nicht. Trotzdem peilt die kleine Gruppe eine Zeit unter zwei Stunden an. Da bin ich dabei. Wenn auch ein bisschen mit Bangen und Zähneklappern. Aber so völlig ohne Zeitziel mag ich dann auch wieder nicht laufen.

Los geht’s. Das Wetter ist ziemlich perfekt (gefühlt und real), nicht zu warm, nicht zu kühl, bedeckt, nicht windig. Ein langweiliges, etwas ödes Wetter für den Normalmenschen, ein paradiesisches für Läufer. Schon bald stellt sich heraus, dass uns die anfängliche Enge im Feld noch länger heimsuchen wird. Die Läufermasse macht überraschenderweise keine Anstalten, sich in Luft aufzulösen, tatsächlich sind alle Läufer um uns herum auch keine Hologramme, sondern echte Exemplare mit scharfkantigen Ellenbogen und plötzlichen Richtungswechseln. Eine Herausforderung für Jörg und mich, für Mutter, Sohn und Kumpel. Und sicher auch für alle anderen, die in unserem Zeitbereich laufen. Was nützt der schönste Blockstart, wenn man im begehrtesten Block landet? Allein das ist schon ein Grund, wieder mehr zu trainieren. Wer schneller läuft, hat mehr Platz. Ich beschließe umgehend, eine Eliteläuferin zu werden.

Nach anfänglichem Straucheln und Stolpern erreichen wir unsere Reisegeschwindigkeit, die uns eine Zeit knapp unter 2 Stunden ermöglichen sollte. Die beiden jungen Männer sind guten Mutes und machen Scherze. Da ich das siebzehnte Lebensjahr bereits abgeschlossen habe, spare ich vernünftigerweise etwas Energie und plaudere lieber nicht mit. Viel wichtiger ist es auch, dass ich das schönste Kleidungsstück im Feld fotografiere. Eine schimmernde Tight, ein Hosenbein in altrosé, eines in blasslila. Getragen von einem Herren, kombiniert mit einem royalblauen T-Shirt. Das ist so großartig, dass es festgehalten werden muss. Die Hose ernenne ich hiermit zur „Tight of the year 2011“. Was soll danach noch kommen?!

Nach etwa 7 Kilometern tritt Erleichterung ein, die Strecke wird breiter, die Enge lässt nach. Zuviel menschliche Nähe ist auf Dauer auch nicht gesund. Ich genieße das Wetter, den fehlenden Wind am Mainufer (der ist dort sonst immer!) und überhaupt. Ich laufe und fühle mich gut. Auch die anderen sehen prima aus. Aus dem Augenwinkel beobachte ich die beiden jungen Männer. Der eine ist noch am Vortag 90 Minuten lang einen Fußballplatz auf und ab gerannt. Alles riecht danach, dass die beiden sich übernehmen werden. In dem kleinen Familienwettkampf bin ich natürlich für die Mutter. Sie ist meine Altersklasse und es würde mir gut gefallen, wenn sie die Wette gewinnt. Davon abgesehen finde ich beide Parteien ziemlich cool. In wie vielen Familien läuft man schon sonntags morgens um die Wette?

Bei km 10 gibt es zu trinken. Wasser, Tee, Roßbacher Sport – alles, was das Herz begehrt. „Trinken, trinken, trinken!!“ brüllt ein hochmotivierter Helfer. Tun wir. Die beiden Jungs nutzen die Gunst der Minute und geben Gas. Jörg und Heike, die Mutter, atmen durch. Wir liegen bei 57:53. Für unter 2 Stunden wird es knapp. Die Jungs kriegen wir wieder, sage ich etwas unsicher. Ich laufe jetzt voraus und versuche, ein wenig zu ziehen. Aber Heike mag das Tempo nicht mitgehen. Jörg bleibt bei ihr. Ich überlege, was ich tun soll. Bei den beiden bleiben? Versuchen, die Jungs einzuholen? Ich könnte ja so vielleicht die Ehre der W40erinnen retten. Kann ich noch unter 2 Stunden bleiben? Während ich grüble, tauchen plötzlich die jungen Männer in meinem Blickfeld auf, die wieder an Tempo verloren haben. Da kann ich nicht widerstehen und mache mich an die Verfolgung. Bei km 14 habe ich sie überholt.

Mein früherer Musiklehrer sagte mir einmal, man müsste immer einen Apfel im Auto haben. Wenn man dann die Gelegenheit hätte, mit seiner alten Klapperkiste einen Porsche zu überholen, müsste man dabei ganz locker in den Apfel beißen, um lässig zu wirken. Psychologische Kriegsführung unter Männern. Manchmal, wenn ich jemanden beim Laufen überhole, beiße ich innerlich in einen Apfel. Es muss ja niemand wissen, dass ich in Wirklichkeit am Anschlag laufe. Interessanterweise wirkt die Methode vor allem bei mir selbst. Ich versuche, so lange lässig zu wirken, bis ich am Ende selbst glaube, es zu sein und noch viele Reserven zu haben. Jaja, das Mentale …

Ab jetzt bin ich auf mich allein gestellt. Niemand zieht, niemand bremst, niemand macht Scherze mit mir. Ich muss nicht lange nachdenken, um zu wissen, was zu tun ist. Ich werde das machen, was ich immer mache: versuchen, mein Zeitziel zu erreichen. Es ist schwierig, aber nicht unmöglich. Es gibt noch viele Äpfel, in die ich beißen kann, viele Läufer haben sich zum Saisonstart ein bisschen übernommen und lassen sich überholen. Die Wendepunktpassage im Wald gefällt mir. Man kann entgegenkommenden Läufern zuschauen und ist abgelenkt. Für mich ein mentaler Pluspunkt und das, obwohl man eine halbe Ewigkeit in eine Richtung unterwegs ist, nur um danach das alles wieder zurückzulaufen. Den MFF beeinflusst das für mich nicht.

Schwierig wird es allerdings danach. Ich nähere mich dem Stadion – aber das nutzt gar nichts. Denn die Strecke zieht sich noch einmal um die ganze Arena herum. Die letzten Kilometer sind nie die kürzesten, doch beim Frankfurter Lufthansa Halbmarathon erscheinen sie als das nackte Grauen. Sie hören einfach nicht auf. Ein ganz typisches Minus für den Mentalen Fies-Faktor. Die gefühlte Strecke erfordert hier den ganzen Läufer, obwohl alles flach bleibt und der Untergrund vollkommen unkompliziert ist. Reine Kopfsache. Der Läufer, der neben mir ächzt, schüttelt fassungslos den Kopf. „Das zieht sich wie Kaugummi!“ Wir haben es gleich. Doch optisch wirkt es so, als würden die Läufer vor uns nicht nach rechts abbiegen, sondern einfach immer weiter geradeaus laufen. „Die laufen jetzt wieder in den Wald da vorne! Das geht jetzt immer so weiter!“ schnauft mein entsetzter Mitläufer. Über diese Vorstellung müssen wir dann doch beide lachen. Es ist kaum zu fassen, aber irgendwann dürfen wir tatsächlich abbiegen und ins Stadion hinein. Ich stoppe die Uhr bei 1:59:45. War gar nicht so schwer. Mich macht es trotzdem ziemlich froh. Das Glück wird vollkommen durch das angebotene „Faust“, das tollste alkoholfreie Bier der Welt. Und eine Bio-Banane von Querbeet. Hällisch, wie der Hesse sagt.

Später sehe ich zwei junge Frauen ins Ziel kommen, auf deren T-Shirt steht „Frank ist schuld“. Kurz darauf taucht ein Mann auf, dessen Shirt sagt: „Ich bin schuld.“ (Frank?) Vermutlich haben heute noch mehr Menschen eine Wette laufen. Nachdem ich mich trocken gelegt habe, besorge ich mir eine große Tasse Kaffee und ein kleines Stück Kuchen. Zeit für das erste Kuchenfoto der Saison. Das gefühlt schönste bis jetzt in diesem Jahr. Gemessen mit dem MSF. Dem Mentalen Streusel-Faktor.

Nachtrag: Der Sohn hat die Wette gewonnen. Er kam mit seinem Kumpel in 2:05 genau eine Minute vor seiner Mutter ins Ziel. Respekt.


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8 Kommentare

  1. Schön geworden und erheiternd wie immer, insbesondere, wenn man Zwangslaufpause hat wie ich… Liebe Grüße!

  2. Wieder mal ein sehr schöner Bericht. Besonders gut gefällt mir die Abkürzung MFF und die Geschichte mit dem Apfel. Ab jetzt werde ich wohl desöfteren mal einen Apfel mitnehmen. Super!!!Gruß, Daniel.

  3. Herzlichen Glückwunsch. Habe den Bericht begeistert gelesen – ist wirklich super geschrieben. Die Anekdote mit dem Apfel ist echt der Knüller. Bis zum nächsten Laufbericht…Gruß,mr_beh

  4. Ich bin 2009 beim Frankfurter HM dabei gewesen, da war der MFF der Strecke deutlich größer! Hoffe, dass ich in 2012 wieder mitlaufen kann – auf der neuen Strecke. Aber vorher: Bonames!Die Tights hat er wohl aus den Überresten zweier ausgemusterter Exemplare seiner Frau zusammengeschustert. „Was, die willst du wegwerfen, die sind doch noch heil und gut?!“ Danke für Bericht und Bilder, Gruß nach FFMUlrike

  5. Littlewhitepony Antworten

    Liebe Frau Schmitt, Herzlichen Glückwunsch zu den 1.59 trotz erhöhtem MFF Faktor auf den letzten Kilometern. Das blasslila Beinkleid des Herren im blauen Shirt hat es mir sehr angetan – modisch, modern und vor allem: mutig. Männer in Laufhosen sind ein tolles Thema, das mich selbst immer wieder beschäftigt: https://www.littlewhitepony.de/2011/01/laufhosen-lugen-nicht/Herzliche Grüße von der grünen Insel – und viele gute Läufe wünscht das Pony

  6. Super super, bin beim Lesen mitgelaufen. War daher gar nicht so anstrengend 😉 sehr lustige Sachen mal wieder drin: Läufer-BSE, MFF oder MSF, trocken legen…hihi.Und ich kenne mindestens eine Person, die die Tragödien in Commerzbankarena stets live miterlebt…Die Apfel-Geschichte ist klasse, besonders für mich als Apfelfan in allen Lebenslagen von besonderer Bedeutung 😀

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