Seit über 10 Jahren nehme ich regelmäßig an denselben Läufen teil. Sie gestalten die Saison. Ab und zu kommt mal ein Neuer hinzu, seltener fällt einer weg. Das ist hübsch und es entwickeln sich liebenswerte Rituale. Aber wie beinahe alles Hübsche, hat auch dies eine Kehrseite. Wenn man nicht aufpasst, wird man zum Rentner, der unruhig wird, wenn um 17 Uhr das Essen nicht auf dem Tisch steht. Rituale sind wie Zement, sie befestigen das, was wir tun und lassen. Man tut gut daran, mit ihnen zu brechen. Ich hätte es auch kürzer sagen können: dieses Jahr kein Egelsbach, kein Koberstädter Waldmarathon. Dieses Jahr: Galway City Marathon. Ich verbringe eine Woche in Irland und laufe dort einen Halbmarathon. Unsereins nennt das Urlaub.
Galway liegt am Meer im Westen Irlands. Die Stadt ist jung, bunt, studentisch, voller Kulturangebote und ein bisschen „ökig“. Eine Art kleines, irisches Freiburg. Dort ist heute Premiere: ein neuer Halbmarathon und Marathon findet statt und zeitgleich der Worldcup über 50km. Mein irischer Freund und ich werden beim Halbmarathon starten. Pünktlich eine Stunde vor dem Start rollen wir auf einen Parkplatz und trotten Richtung Start.
Unsere Startunterlagen haben wir bereits am Vortag abgeholt. In einem ungenutzten garagenartigen Raum eines Hotels bekamen wir unsere Läuferbeutel und alles wirkte ein bisschen improvisiert. Immerhin gab es ein nettes Baumwoll-Shirt und einen interessanten Chip zur Zeitmessung. Die angekündigte Marathonmesse fand aber nicht statt. Egal.
Auf dem Weg zum Startareal am Hafen treffen wir einen sehnigen Läufer, der uns fragt, wo’s lang geht. Gemeinsam setzen wir den Weg fort. Der Läufer ist aus Cork angereist und wir erkennen messerscharf, dass er den „Full Marathon“ in Angriff nimmt. Ein lustiger Typ mit rasiertem Schädel und blauen Schuhen. Als wir dort ankommen, wo wir den Start vermuten, ist es verdächtig still. Nein, hier kann es nicht sein. Wir ahnen, wo wir stattdessen hin müssen. Der Mann aus Cork wird unruhig und eilt uns voraus. Wenig später treffen wir weitere Läufer und schließen uns ihnen an. „What a beautiful day, isn’t it?“ Hier sagt man das dauernd – und das beinahe unabhängig von der aktuellen Wetterlage. Wenn es in Irland nicht gerade faustgroße Tropfen donnert, ist es eben ein „beautiful day“.
Schließlich finden wir alles, was zu einem typischen Startareal gehört: viele nervöse Läufer, Zelte zur Kleiderbeutelabgabe, schlechte Musik und viel zu wenige Toilettenhäuschen. Letztere sind wirklich sehr rar – eine lange Schlange wartet bereits geduldig davor. Der Stimmung tut das keinen Abbruch.
Ich beäuge neugierig alle Läufer und vergleiche sie mit der Truppe, die bei heimischen Volksläufen aufläuft. Hier ist man jünger, viel jünger. Ich gehöre bereits zu den älteren. Man kleidet sich leichter, aber das kenne ich von den Iren schon. Während unsereins im Fleece bibbert, tut es bei Iren das Trägerhemdchen. Heute Morgen sind es 15 Grad und es verspricht, bestes Laufwetter zu werden.
Wir geben unseren Kleiderbeutel ab und wollen uns ein wenig einlaufen. Außer uns tut das absolut niemand. Im Startbereich schlunzen etwa 800 Läufer umher, niemand dehnt sich, niemand läuft hektisch auf und ab. Kurios. Schließlich wird ein „Warm up“ mit hüpfenden Fitness-Damen angeboten, was nur wenig Anklang findet. Direkt vor der Kulisse eines im Hafen liegenden Kriegsschiffes ist das aber hübsch anzusehen.
Der Start verzögert sich schließlich um einige Minuten. Wer interessiert sich schon für „Dschörmen Punktlischkait“. Direkt nach dem Start treffen wir auf Sonia O’Sullivan, so eine Art Herbert Steffny Irlands, wenn auch etwas jünger. Vielleicht begleitet sie hier ein paar Schützlinge, wir wissen es nicht. Ich mache im Laufen ein verschwommenes Foto. Muss ja alles dokumentiert werden.
Während meiner gemütlichen Einlaufphase schaue ich mich weiter im Feld um. Der Frauenanteil ist gefühlte 40%. Ganz und gar durchschnittliche Frauen laufen hier, rundliche, sommersprossige Wesen mit Pferdeschwänzen. Den kurzhaarigen Läufertyp, wie man ihn in Deutschland oft sieht, gibt es hier weniger. Diese Frauen hier scheinen keine Frauenläufe zu brauchen, um sich aus der Deckung zu wagen. Sie tragen auch keine Jacken um die Hüften, um ihre Rundungen zu verdecken. Und sie sind schneller als ich. Junge Frauen in Deutschland könnten hier etwas Nachhilfe in Sachen Selbstbewusstsein bekommen. Ab und zu sieht man Charity-Botschaften, auch etwas, was es in Deutschland seltener gibt.
Ich habe keine Ahnung, wie der Kurs verläuft, lasse mich überraschen. Was mächtig Spaß macht. Auch von den Kilometer-Schildern bin ich überrascht. Die gibt es nämlich nicht. Man rechnet schließlich in Meilen. Stimmt, das hatte ich ja ganz vergessen. Für die erste Meile brauche ich neun Minuten und ein paar Zerquetschte und das erscheint mir für einen Wellnesslauf mit Fotopoints ganz angemessen. Wir laufen die Straßen entlang, eine Seite ist jeweils für den Verkehr gesperrt. Gleich zu Beginn geht es sanft bergauf.
Im Feld wird geplaudert und gelacht. Es scheint, als wären noch mehr Läufer auf Wellness-Kurs. „What a beautiful day!“ Die Sonne scheint, aber es pustet ganz ordentlich. Wind gehört hier einfach dazu. Ich genieße den Blick in die Vorgärten, die so ganz anders aussehen, als bei uns. Ein Traum ist natürlich alles, was grünt und blüht, hier wird Irland auch in der Stadt jedem Klischee gerecht. Schon ein Stückchen Rasen kann einen hier zum Staunen bringen. Grüner wird’s nicht.
Nach fünf Kilometern gibt es die erste Verpflegungsstelle. Es gibt Wasser, was für die Halbmarathon-Läufer ausreichend ist. Ultras und Marathon-Läufer verlassen sich da besser auf die Eigenverpflegung. Langsam schiebe ich mich weiter und genieße. Beinahe finde ich es schade, schon ein Viertel geschafft zu haben. Nach einiger Zeit wird es etwas grauer. Wir laufen an einer langen Reihe kleiner einfacher Häuser vorbei. Für einen Ausländer ist aber sogar das spannend.
Außerdem geht es wie so oft bergauf und so ist man gut beschäftigt. Auch das Feld ist stiller geworden. Ein Läufer spricht mich an und macht einen Scherz, den ich nicht ganz verstehe. Also sage ich einfach „A beautiful day, isn’t it?“ und schon ist die Unterhaltung wieder perfekt. Die Geduld an der Siedlung wird durch einen reizvollen Brückenübergang belohnt.
Danach geht es in die Stadt. Hier ist vergleichsweise viel los. Während sonst nur vereinzelte Fans an der Strecke zu finden sind, tobt hier beinahe so etwas Ähnliches wie ein „Stimmungsnest“. Am Getränkestand gibt es sogar ein tiefblaues isotonisches Getränk. Das erinnert mich aber zu sehr an die Spülflüssigkeit im Dixieklo am Start und so bleibe ich beim Wasser.
Und weiter tappt die Karawane. Jetzt ist auch unsere Spur für den Verkehr freigegeben und Läufer mischen sich mit Autos. Das klingt schlimmer als es ist. Nur einzelne Fahrzeuge schleichen vorsichtig voran. Außerdem gelingt es mir so, das erste Mal in meinem Leben ein Auto zu überholen und das ist doch mal was! Wir laufen an einem Golfplatz vorbei und in dokumentatorischem Eifer mache ich ein Foto. Das heißt ich will eines machen, als mich die golfspielenden Herren entdecken und heftig protestieren. Gebrüll schallt mir entgegen. Ich mache schnell mein Foto und denke „Fangt mich doch!“ Schwupp, weg bin ich.
Und weil ich gerade so dynamisch bin, darf ich dasselbe Auto noch einmal überholen. Nach einem der zahlreichen Kreisverkehre, in die wir hineinlaufen (Kreisel haben hier alle einen eigenen Namen) geht es wieder einmal bergauf. Was sonst. Es ist ein bisschen kühl geworden. Die Sonne ist verschwunden und nun spürt man den Wind. Bald kommen wir zurück ans Meer, das könnte ganz schön luftig werden. Nach einem weiteren Hügel sehe ich es das erste Mal wieder. Das Meer. Für jemanden, der sonst nur in hessischen Wäldern läuft ist das einfach etwas Besonderes. Ich mache sofort ein Foto, was sich als geschickt erweist.
Weitere Bilder von Wind und Wellen werden schwierig – es beginnt zu regnen. Bereits früher hat es einmal geregnet, doch das war nicht der Rede Wert. Jetzt wird es jedoch richtig nass. Ich muss meine Kamera gut verpacken. Was ein Jammer ist. Denn jetzt beginnt der schönste Streckenabschnitt. In einem rechten Winkel biegt die Strecke nach rechts ab – direkt aufs Meer hinaus. Eine lang gezogene Promenade, die direkt auf einen kleinen Leuchtturm zuführt muss absolviert werden. Es ist naturgemäß ein Wendepunktabschnitt und ein echtes Highlight. Es riecht nach Fisch und Salz und der Regen staubt uns ins Gesicht. Auf dem Rückweg herrscht Gegenwind, aber das macht gar nichts. Es ist einfach zu schön, hier zu laufen. Wie großartig wäre das erst bei Sonnenschein gewesen! Noch zwei Kilometer, dann sind wir im Ziel. Vor mir laufen zwei junge Herren mit bedruckten T-Shirts: „Twelve Marathons, Two Man“ steht darauf. Die Jungs wollen in jedem Monat einen Marathon laufen. Wie es scheint, ist das der erste. Wir reden kurz miteinander („What a beautiful day!“) und ich wünsche Glück fürs Projekt. Das mache ich zuhause nie, kurz vor dem Ziel mit Leuten plaudern. Wenige hundert Meter davor hört es auf zu regnen. Der Wind ist so kräftig, dass es mich beinahe wieder trocken pustet. Die Bruttozeit zeigt 2:00:36, als ich ins Ziel laufe. Meine eigene Uhr habe ich bei einer Fotopause versehentlich gestoppt, aber ich weiß, dass ich nach 50 Sekunden über die Startlinie gekommen bin. So hat es sogar für unter 2 Stunden gereicht.
Im „Female changing“-Zelt ziehe ich mich um. Es sieht ein bisschen aus wie eine Notunterkunft im Katastrophengebiet, schließlich hat es ja auch die Army aufgebaut. Aber es ist warm und windgeschützt. Wunderbar. Außer mir findet sich keine einzige Frau dort ein. Warum auch immer. Ich finde das Angebot toll.
Trocken und mit ausreichend Wasser versorgt gehe ich zurück zum Ziel und schaue den 50km-Läufern zu, die am Ende mehrere kleine Loops drehen müssen und somit mehrfach im Ziel vorbeikommen. Das ist sehr unterhaltsam. Nach einer Weile sehe ich den Mann aus Cork, der uns vor dem Start begegnet ist. Frisch und munter läuft er ins Ziel – und gewinnt mit 2:42 den Marathon. Die Elite hat sich ganz auf den Ultra konzentriert und so war das seine Chance. Die bald darauf eintreffende Marathon-Siegerin hat noch nicht genug und hängt einfach noch die 8 Kilometer zum Ultra dran. Vielleicht war es für sie auch nur ein Wellness-Lauf.
Nachtrag:
In Ermangelung eines typisch hessischen Streuselkuchenangebots und aufgrund plötzlich einsetzenden Radikalhungers kehren wir in einem Restaurant mit globaler Küche ein. Man kann nicht immer alles haben. Aber fast.
Entdecke mehr von Laufen mit Frauschmitt
Subscribe to get the latest posts sent to your email.
10 Kommentare
Cool so ein Lauf in der Fremde. Da fällt mir ein, wolltest du nicht immer mal zum Rennsteig kommen, bevor du alt wirst?Jörg
Ich bin zwar schon alt, aber ich will trotzdem immer noch zum Rennsteig kommen. Wird schon noch klappen 😉
Na das ist ja mal spannend: andere Länder, andere Laufsitten. Wirklich erstaunlich, dass so viele junge Iren laufen – verwunderlich! Ist da wahrscheinlich populärer als in D, wo „Volksläufe“ schon von der Bezeichnung her klingen, als wären sie eher für ein älteres Publikum. Vllt umbenennen in Crowd Running und läufts, das jüngere Volk. Huuaaah, und dann alle ohne Aufwärmen trotz weniger dicken Klamotties **bibber**. Danke auch für die tollen Bilder! PS: Was ich – als Nicht-Volksläufer so far – schon immer mal wissen wollte. Bei den Versorgungsstopps während des Marathons, haltet ihr da an und trinkt schnell oder kippt man das im Laufen in sich rein um keine Zeit zu verlieren. Sry für die doofe Frage, aber ich stelle sie mir nicht das erste Mal beim Lesen.
Wieder mal ein toller Blogeintrag und du machst einem richtig Lust auf Irland. Finde es natürlich lustig, dass ihr die Einzigen beim Warmlaufen gewesen seid. Ist in Irland wohl nicht so üblich. Gut auch, dass der Marathonsieger am Anfang auf euch getroffen ist und ihr ihm den Weg gezeigt habt, sonst hätte er vielleicht doch nicht gewonnen. Also dürft ihr euch auch ein bisschen als Sieger fühlen.Gruß aus Südafrika, Daniel.
@Shan_dark Ob man am Getränkestand anhält, ist eine Frage der Geschwindigkeit – und des Typs. Je schneller, desto weniger wird angehalten. Ich kenne aber auch langsame Läufer, die beim Trinken weiterlaufen, weil sie Angst haben, aus dem Rhythmus zu kommen. Ich selbst genieße die Minipause in der Regel ganz bewusst, trinke in Ruhe einen halben Becher und gehe dabei ein paar Schritte. Zeit verliere ich dabei eigentlich nicht, ich hole die Weitergelaufenen meist schnell ein. Aber schon ein paar Sekunden gehen bringen den Puls etwas runter und sorgen für Erholung. Beim Marathon macht das auf Dauer viel aus. Außerdem ist das besser für die innere Ruhe. Ich beobachte immer wieder Leute, die hektisch trinken, das Meiste verschütten, sich verschlucken und auch noch stolpern. Das ist die Sache nicht wert. Im Elite-Bereich ist das natürlich was anderes, die haben das sehr gut drauf mit dem Trinken im Laufen. Die können sogar im Laufen pieseln. 😉
Sehr schöner Bericht mit tollen Fotos. Faszinierend fand ich ja den Teil mit den „kleinen Unterschieden“ zwischen deutschen und irischen Veranstaltungen. Einfach unglaublich, dass es Läufe ohne Kuchenbuffet gibt 😉
@adminFrauSchmitt Danke für die ausführliche Antwort. Jetzt weiß ich bescheid, auch über die Elite :-0Da hat @pierle natürlich recht: es ist viiiiel schöner sich 2h lang auf ein Kuchenstück zu freuen als auf McDoof. Tja, ihr hättet das den Iren kulturell mal näherbringen sollen. Aber vllt. backen da die Hausfrauen statt Kuchen wirklich nur fish’n’chips… so wirds sein!
Hallo Frau Schmitt, ein wirklich schöner Bericht! Regt zum Selbststest an :o)
Wirklich sehr unterhaltsamer Bericht.Ich selbst werde im Herbst zumindest mal im deutschsprachigen Ausland (Nordschweiz) einen HM laufen.Eine Frage:Mit welcher Kamera bist du/sind Sie* unterwegs gewesen?*Ist mein erster Kommentar hier und ich weiß gerade nicht, ob ich Du oder Sie sagen soll 🙂
Hallo Simon,machs doch einfach wie im Supermarkt von Kassiererin zu Kassiererin „Du, Frau Schmitt, was kosten die Kekse?“ 🙂 Ich denke, unter Läufern sagt man am besten Du. Ich hab eine Sony Cybershot-Kamera, die ist aber schon etwa fünf Jahre alt, also uuuralt. Ich packe die in eine kleine Kameratasche und die clippe ich an meinen Trinkflaschengürtel an den Rücken. Das geht ganz gut und stört kaum.