Es ist Mittwoch. Mittwoch ist kein guter Tag. Denn Mittwochs haben wir Sport. Der Sportplatz ist fünf Minuten von der Schule entfernt und so zieht sich ein Bandwurm aus plappernden Mädchen über den Rathausplatz. Vorneweg die Hochgewachsenen mit den wippenden Pferdeschwänzen und den engen Adidas Shirts, am Ende die, aus denen die Hormone der Pubertät streuselige Barbapapas gemacht haben. Ich sehe zwar sportlich aus, aber ich bin es nicht. Ich gehe am Ende. Je länger wir für den Weg brauchen, desto kürzer wird die Sportstunde sein. Die letzten Meter verharren wir fast schon in Zeitlupe.
Meine Sportlehrerin klatscht in die Hände. Sie hat eine blöde Frisur, eine blöde Figur und eine blöde Stimme. Sie trägt einen Trainingsanzug aus glibberigem Stoff, und riecht wie ein Regenschirm, der nicht richtig getrocknet wurde. Ich hasse den aufdringlichen Robert aus der elften. Ich hasse Kapern, Spinnen und Shakin‘ Stevens. Aber nichts hasse ich so sehr wie Frau Sauter. Sie unterrichtet Sport. Nur Sport. Dabei habe ich sie noch nie laufen sehen. Nie hoch springen, nie weit werfen. Frau Sauter ist mehr für das Theoretische. Aber das, was jetzt kommt ist Praxis.
Wir wärmen uns auf. Dafür machen wir den Hampelmann. Der Hampelmann steht für die ganze lächerliche Prozedur der kommenden Stunde. Es wird in die Hände geklatscht und getadelt. Einige machen den Hampelmann falsch. Frau Sauter rollt mit den Augen, die Hochgewachsenen kichern über die mit den breiten Hüften. Danach wird gedehnt. Wir werfen unsere bleichen Beine auf die Stangen, die zur Begrenzung des Stadions gehören. Sie sind viel zu hoch für uns, aber wir denken, das höllische Ziehen muss so sein. Zwanzig Oberkörper wippen wie mit einem Spielzeugschlüssel aufgezogen zu zwanzig Fußspitzen. Frau Sauter muss nicht wippen. Sie ist naturgedehnt.
In der Schule wird gelernt. Außer beim Sport. Da wird benotet. Heute wird der 2000 Meter-Lauf benotet. Dabei sind wir vorher noch nie 2000 Meter gelaufen. Aber das Sommerhalbjahr ist eben kurz. Und es muss schließlich soviel benotet werden. Dafür gibt es die Tabellen der Bundesjugendspiele. Früher gab es schon eine Siegerurkunde, wenn man das Ziel laufend erreichte. Aber früher war alles noch Spiel. Jetzt bin ich 15 und das hier ist ernst.
Mit meiner Freundin Susanne hatte ich mich auf den Lauf vorbereitet. Zumindest hatten wir das ganz fest vor. Wir liefen in den Wald, Susanne, der Hund und ich. Aber als wir im Wald ankamen, war plötzlich der Hund weg. Dann mussten wir den Hund suchen und als er wieder da war, hatten wir keine Lust mehr zum Laufen. Trotzdem: wir waren die einzigen, die für das 2000 Meter-Ereignis mit Sportkleidung in den Wald gelaufen sind. Da sollten sich die Pferdeschwanzigen mal eine Scheibe von abschneiden.
Susanne ist genauso unsportlich wie ich. Sie macht den Hampelmann falsch und muss nach einer Stadionrunde gehen. Auch heute. Aber ich will nicht gehen. Ich will durchlaufen. Nicht wegen Frau Sauter. Einfach wegen … ich weiß es nicht. Es ist auch egal. Ich will durchlaufen. Niemand erwartet das von mir. Ich bin diejenige, die wie ein Faultier am Reck hängt und nicht weiß, wie sie sich um die Stange schleudern soll. Ich bin die, die gegen den Kasten läuft, weil sie den Absprung verpasst hat. Ich bin die, die sich die Kugel auf die Zehen fallen lässt, anstatt sie zu werfen. Ich bin die, die übrig bleibt, wenn man Mannschaften wählt. Aber ich bin auch die, die über all das lachen muss. Der einzige Ausweg aus der Lächerlichkeit ist das Lachen. Ich bin die Anführerin der Dicken und Ungeschickten. Ich mache einen Spruch und schon lachen die anderen mit uns und nicht mehr über uns. Es ist jedesmal ein kleiner Sieg, ganz ohne Urkunde. Frau Sauter weiß das. Von den Langsamen und Ungelenkigen reize ich sie am meisten. Ich bin eine Gefahr für die Disziplin. Vielleicht will ich deshalb durchlaufen. Sie soll nicht denken, dass sie mich kennt.
Ich laufe und laufe und werde immer langsamer. 2000 Meter sind lang, wenn man bisher schon an 1000 Metern gescheitert ist. Die anderen sind längst im Ziel. Nur noch Susanne, zwei andere Mädchen und ich sind auf der Bahn. Aber ich laufe immer noch. Gehen verbiete ich mir. Mir ist heiß und der Atem brennt in der Lunge. Noch nie habe ich mich so lange angestrengt. Als drittletzte komme ich ins Ziel und werfe mich sofort ins Gras. Eigentlich bin ich zweitletzte, Susanne hat aufgegeben, nachdem ich ins Ziel kam. Meine Zeit: etwa 13 Minuten. Ich bin überrascht, dass ich auf einmal so etwas fühle wie Stolz.
Wir scharen uns um Frau Sauter und ihren hässlichen Trainingsanzug. Sie benotet. Dazu muss sie nichts tun, als die Note in einer Tabelle ablesen. Susanne und ich schauen uns mit unseren roten, verschwitzten Gesichtern an. Als die Reihe an uns kommt, werden wir bleich. Wir und die beiden anderen Schlusslichter bekommen alle eine sechs. Das war einfach zu langsam, sagt Frau Sauter. Da hätte ich doch besser blau gemacht, sage ich locker, aber der Scherz fühlt sich auf meinen Lippen nicht so cool an, wie ich es gerne hätte. Wut und Ohnmacht sind keine Comedy-Helden. Heulen muss ich nicht. Dafür bin ich einfach zu alt. In der Zeitung meines Abijahrgangs schreibe ich: Das Klicken einer Stopuhr soll mich nie wieder belästigen.
Erst zwölf Jahre später erfahre ich, wie schön laufen sein kann, wenn man dabei für niemanden den Hampelmann machen muss.
Bilder: © gemenacom – istockphoto, anncapictures – pixabay
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21 Kommentare
Wie wahr, wie wahr. Genauso war’s. Waggonladungen von Spaßpotenzial an Bewegung verschwanden so im Atommüllendlager.
Deinem Artikel kann ich nur zustimmen. Und Danke dafür, dass durch deinen Bericht der Montagmorgen gut beginnt. Habe mich köstlich amüsiert. Gruß, Daniel.
boah, was werden da noch für anderen seltsame Erinnerungen an den Schulsport wach … igitt … Feuerkäfer am Umkleidebaum (Umkleideräume gab es nicht), Crosslauf mit Heuschnupfen durch die Kleingartensiedlung, Handball gegen die Leistungssportlerinnen (Rudern und Handball), die zwei Köfpe größer waren als ich und mich wahscheinlich genausoleicht ins Tor hätten werfen können, wie den Handballball … an Turnen mit und ohne Geräte mag ich da gar nicht denken. Heute gehör ich auch zu denen, die hinten gehen und laufen, aber es schmerzt nicht mehr so auf der Seele. Beste Grüße an Sie, FrauSchmitt
Herrlich, wie bei diesem Beitrag Erinnerungen wach werden… Ohje, wie hab auch ich den Sport im Allgemeinen und den Schulsport im Besonderen gehasst und verteufelt… Danke für den Beitrag!
Die Kommentare meiner Sportlehrerin nach dem 100 Meter Lauf: Na, unterwegs noch einen Kaffeeklatsch eingeschoben … werde ich wohl nie vergessen. Eigentlich bestand der Sportunterricht wirklich nur aus Leistungskontrollen. Heute laufe ich, freiwillig, für mich und ohne Kommentare.
Ich müßte hier noch „off-topic“ anbringen, daß es mir in Mathe auch nicht anders ergangen ist. Die meisten Lehrer sind eher Spaßbremsen gewesen, anstatt motivieren zu können
…“In der Schule wird gelernt. Außer beim Sport. Da wird benotet.“…Ein herrlicher Bericht! Wer Kindern die Freude an der Bewegung erhalten möchte, muß den Schulsport abschaffen. Sportlehrer werden es NIE raffen
Leider wird genau bei den Kindern schon vieles falsch gemacht. Die werden dann vom Sport entfernt. Denn die Erinnerung ist dann eine negative und nicht mehr positive. Genau dort gehört viel mehr angesetzt.LgWilliPS: Ich habe auch einen Lauf-Podcast…. 🙂
Ich habe es auch immer gehasst, dass nie trainiert wurde, aber dann dämliche Kommentare von den Sportlehrern beim Laufen auf Zeit und Note abgegeben wurden. Oder uns die Schüler aus Vereinen als Vorbild hingestellt wurden,Zitat mein Sporlehrer: „Wie ihr seht, ist es doch ganz leicht 2000m zu laufen.“ Ich habe zwei Lehren daraus gezogen: Laufen macht Spaß lernte ich erst als Erwachsene, aber jetzt genieße ich es richtig. In meinem von mir gehaltenen Sportunterricht gibt es andere Formen der Motivation, Leistungsüberprüfung und jede Menge Spaß an der Bewegung!(Außerdem mache ich vieles mit.)
Hallo Willi,Du kannst hier gerne einen Link von Deinem Podcast reinsetzen, damit man ihn leichter findet. Vielleicht mach ich ja auch mal einen Podcast über andere Laufpodcasts!
Mir wurde allein beim Lesen schon wieder flau, wenn ich an meine Schulsportzeit zurückdenke. *schüttel*Schön, daß die Geschichte quasi ein Happy End hat. 🙂
Ach ja das ging mir irgendwie auch so. Erstaunllich war, das meine Tochter 25 Jahre später beim gleichen Sportlehrer die gleichen Erfahrungen machte.GrüßeJörg
Ich war in der Schule einfach irgendwie sportlich, ohne dass ich etwas dafür tun musste. Egal ob 100-Meter-Sprint, Weitsprung, Barren und Co. – bei allen Bundesjugendspielen regelmäßig abgeräumt :-)Nur Fußballspielen fand ich immer doof und da darüber meist demokratisch abgestimmt wurde, spielte wir quasi dauernd Fußball …
Danke Frau Schmitt,das hätte von mir sein können, außer dass ich- nicht so gut schreiben kann- nicht mal sportlich ausgesehen habe als Jugendlicheaber sonst: exakt das Gleiche!
Ich kann mich nur anschließen!Sport war auch für mich das Fach, in dem mir nie etwas vom Lehrer gezeigt oder die Übung erklärt wurde. Immer hieß es nur: „Heute ist Leistungskontrolle im 1000m-Lauf, wir brauchen noch Noten.“Kopfstand und Bockspringen (naja eigentlich war es eher „Wäschetruhe-Springen“ 🙂 ) haben mir meine Eltern beigebracht, Volleyball habe ich selbst geübt. Damit es am Schuljahresende immerhin zur 3 auf dem Zeugnis reichteAber die Antipathie gegenüber meiner Sportlehrerin beruhte auf Gegenseitigkeit, sie hat es geliebt meinen vollständigen Namen durch die Turnhalle zu gröhlen.Tja und nun laufe ich das dritte Jahr, völlig freiwillig und ohne Leistungsdruck, ist das herrlich 🙂 und Sport/Bewegung macht endlich Spaß.
18 Jahre lang hab ich Sport und ganz besonders das Laufen gemieden wie der Teufel das Weihwasser – wegen genau dieser Art SportlehrerInnen und deren „Unterricht“. Seit 4 Jahren laufe ich, mehr oder weniger regelmäßig.Weil’s spaß macht und weil ich’s kann (auf einmal…).GROßARTIGER ARTIKEL!
Wunderbar diese beschreibung, ich hatte das gefühl, ich selbst habe hier geschrieben, die gleiche entwicklung wie bei mir ……..“das Leben einer Dicken, Pferdeschwanztragenden, verpickelten und unansehnlichen Mädchen die nichts kann“ heute laufe ich auch seit fast 10 Jahren, einen Marathon werde ich wohl nie schaffen, denn häßlich und dick bin ich immer noch…………ach ich denke ich habe einfach keinen Willen
leichtathletik war ehrlich gesagt nie so meine stärke ????
Spät, aber dennoch möchte ich mir nicht verkneifen, diesen Beitrag zu kommentieren.
Eine wunderbare Beschreibung in der sich – wie auch die Komemntare zeigen – wohl viele von uns wiederfinden können. Auch mein Sportunterricht hat nicht wirklich dazu beigetragen, dass ich mich sportlich betätigt oder interessiert hätte. Im Gegenteil – bei vielen Sportlehrern hatte ich den Eindruck, ihr Anliegen sei es möglichst viele Kinder vom Sport abzuhalten und ihnen die Bewegung zu verleiden. Gut, dass sie es bei so vielen nicht geschafft haben.
Was mich aber wirklich betroffen macht ist die Tatsache, dass es die Frau Sauters und die beschriebenen Kinder auch heute noch gibt. Und das tut mir leid – hier geht soviel Potential verloren…
httpss://www.change.org/p/petition-bundesjugendspiele-abschaffen-manuelaschwesig
Bei den Bundesjugendspielen hatte ich auch mal 0 Punkte im 100m Lauf, beim Hochsprung bei der Anfangshöhe alle 3 Versuche gerissen und in der Oberstufe im Coopertest eine 6. Aber ich habe das damals nicht so wichtig genommen bzw. kann heute darüber schmunzeln. Sportunterricht bereitete mir eigentlich nur dann Spaß, wenn wir Mannschaftsspiele (ausser Völkerball) gemacht haben, aber damit war es nach der 10. Klasse leider vorbei. Ansonsten war da meist die Angst vor irgendwelchen Geräten, Kletterstangen, beim Völkerball getroffen zu werden oder alleine etwas Vorturnen zu müssen. Außerdem empfand ich den hohen Theorieanteil in der Oberstufe damals eher als langweilig. Die Lehrer waren mir allerdings nicht ganz so unsympathisch wie Frau Sauter der Autorin.