20 km in Kelkheim-Hornau (2008)
Kelkheim Hornau ist ein besonderer Ort. Dort werden nämlich manchmal neue Sportarten erfunden. Am Pfingstmontag zum Beispiel. An diesem Tag wurde das „Nordic Start-Verpassing“ erfunden. Nordic Start-Verpassing geht so: Man meldet sich für eine Walking-Veranstaltung an. Dann plaudert man mit ein paar Bekannten, geht noch mal ein wenig ans Auto, steht lange bei den Toiletten an oder isst noch eine Kleinigkeit. Dabei verpasst man dann den Start zu dem Wettbewerb, bei dem man angemeldet ist. Man wartet noch ca. 10 Minuten – und dann kommt man auf Touren: man nimmt beide Stöcke in eine Hand und rennt völlig entfesselt dem Feld hinterher. Da man eine Abkürzung nimmt, holt man es schließlich ein, um danach die verbliebene Strecke im üblichen Walking-Schritt zu absolvieren. Mein Trainingspartner und ich konnten bei der Geburtstunde dieser neuen Sportart dabei sein und einen wahren Pionier dabei beobachten. So hat sich die Anfahrt für uns bereits weit vor unserem Start gelohnt.
Wir stehen in der Sonne und dehnen ein bisschen. Mein Trainingspartner hat heute ein taubes Bein. Das ist durchaus doppelsinnig zu verstehen: Nicht nur, dass es nicht auf ihn hört, es fühlt sich auch wohl an wie ein eingeschlafenes Marshmellow. Kann man laufen, wenn einem statt eines Beins eine Süßspeise an der Hüfte hängt? Natürlich, sagt mein Trainingspartner und geht erst einmal in die Büsche.
Ich dagegen wähle die Geheimtoilette. Die Geheimtoilette ist Luftlinie drei Meter von der gängigen Toilette entfernt. Sie ist nicht versteckt und jeder kann sie benutzen. Trotzdem stehen vor der gängigen Toilette gefühlte 72 Nierentätige, vor der Geheimtoilette sind es zwei. Es gehört zu den großen Volkslaufgeheimnissen, dass so etwas möglich ist.
Die weitläufige Sportanlage „Am Reis“ empfängt die Läufer wie in jedem Jahr mit Wiese, Tennisplatz und einem Schwimmbad, in dem wie jedes Jahr ein paar Blütenblätter auf einer brackigen Suppe surfen. Daneben instruiert ein Herr im Elchkostüm die Kinder für ihre Läufe. In Hornau finden heute viele Läufe statt und wie immer ist alles bestens organisiert.
Wir laufen uns ausgiebig ein (das schnarchige Bein soll aufwachen) und begrüßen dabei den hingebungsvollsten Streckenposten Deutschlands, der wieder einmal frühzeitig bereit steht, um das Karma der Umgebung schon mal positiv zu beeinflussen. Wie immer ist er in voller Laufmontour. Soviel Solidarität muss sein.
Vor lauter Einlaufen gehen wir bereits Pre-Schwitzt an den Start. Das 20iger Feld ist klein. Bei einer so profilierten Strecke ist die Versuchung groß, es bei einem 10er zu belassen. Als Feld- Wald- und Wiesenläufer finden wir die geringe Beteiligung aber eher angenehm. New York war gestern – heute ist Hornau.
Wir starten in der Sonne auf Asphalt und umrunden erst einmal das wunderbar miefende Rapsfeld. Alles ist gelb. Ich habe keine Ahnung, wie ich heute drauf bin. Unter 1:50 bleiben, mehr will ich eigentlich nicht. Gestern noch habe ich eine Radtour gemacht, wer weiß, ob das die Beine übel nehmen.
Der erste Anstieg lässt nicht lange auf sich warten. Es ist nicht steil, aber es zieht sich. Irgendwann, nach einem langen Anstieg durch den Wald, kommt eine Stelle, die sich jedem Hornau-Läufer ins Gedächtnis brennt wie Grillfunken in die neue Gartentischdecke: es ist eine staubige steile Kurve, die so tut, als wäre sie der Gipfel der Steigung – dabei geht es danach noch eine ganze Weile weiter bergauf. In der Regel steht hier ein Fotograf, um alle Farben und Formen entgleisender Gesichtszüge einzufangen. So auch heute.
An dieser Stelle muss ich meinen Trainingspartner ziehen lassen. Das Bein scheint sich langsam zu räkeln. Andere Begleiter finden sich kaum – durch das auf und ab sind die Rhythmen zu verschieden. Man begegnet sich, und trennt sich wieder. Dazu kommen insgesamt vier Möglichkeiten zu trinken, das wirbelt ohnehin immer alle durcheinander. Wieder einmal ist ein Läufer mit Laufkinderwagen an mir vorbeigefegt und wieder einmal wundere ich mich, dass es möglich ist. Nach einer Flachstrecke komme ich meinem Trainingspartner wieder näher und tatsächlich kann ich ihn einholen. Wir nehmen einen guten Schluck Wasser und rollen ein Stück zusammen bergab. So richtig gut in Form, das spüre ich schon, bin ich heute nicht. Noch macht es aber nichts. Es ist ungeheuer ruhig im Feld, man schnauft in der Sonne vor sich hin, jeder läuft für sich. Jetzt geht langsam der Knoten auf, sagt mein Trainingspartner und ich sage: bei mir geht er langsam zu. Obwohl man ja immer positiv denken soll, kann ich es mir nicht verkneifen. Schließlich kommen wir bald auf die zweite Runde und das ist mental ein schwieriger Punkt: man weiß, man muss das alles noch einmal laufen.
Aber dann treffe ich den engagiertesten Streckenposten Deutschlands und das hilft doch schon mal eine Menge. Wie immer fange ich auch hier auf der Hälfte kräftig an zu rechnen und rechne lauter groben Unfug. Zum Beispiel denke ich, an der 11- Kilometer-Stelle wären erst 10 vorbei. Meine 10er Zeit verpeile ich völlig. Hätte ich mal den Streckenposten gefragt. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich gleich im Ziel sein. Aber das dauert noch. Dazwischen liegt eine weitere Dosis Raps, einige Becher Wasser und ein weiteres Mal die staubige Kurve mit dem Fotografen, vor dem ich versuche, die Lefzen hochzuziehen. Obwohl es danach noch bergauf geht, gehe ich jetzt durch ein finsteres Tal. Auf einmal bin ich müde. Es ist warm und mir fehlt Luft. Mein Trainingspartner ist längst auf und davon und ich mühe mich redlich.
Der herrlich albern aussehende Hut eines weiteren Streckenposten (der gar nicht beabsichtigt, albern auszu- sehen) heitert mich wieder etwas auf. Und dann passiert etwas, das mich beim Laufen immer wieder fasziniert: Ich erhole mich. Schon ein kleines Stück leichtes Bergablaufen genügt. Auf einmal bin ich wieder da. Es ist immer wieder rätselhaft. Bei Kilometer 16 denke ich noch „öfz“ und einen Kilometer später denke ich „dideldum“. Zwar fegt der Laufkinderwagen inzwischen ein zweites Mal an mir vorbei, und das auf einem schmalen holprigen Pfad, aber ich schaue ihm fröhlich nach, wie er in seiner Staubwolke verschwindet. Tatsächlich: Tiefs kommen und gehen, nicht nur beim Marathon. Ich laufe an einem 12jährigen Jungen vorbei, der die Strecke ungeheuer wacker meistert. Später erfahre ich, dass dies nicht nur sein erster 20er ist, sondern dass er dabei auch seinen Vater um etliche Minuten abhängt. Der Junge ist tapfer und ich bin es auch. Alles blüht und grünt hier schließlich nur für mich. Und die positiven Gedanken schießen aus all meinen Hirnwindungen hervor. Für die letzten zwei Kilometer gibt es im wesentlichen zwei Möglichkeiten: entweder man läuft völlig auf dem Zahnfleisch oder man rennt wie in Trance. Letzteres ist mir deutlich lieber. Die Trance war zwar schon mal besser als heute, aber ich hangle mich hin.
Ich freue mich jetzt schon auf den Anblick des Streckenpostens, der mich in die Zielschneise einweisen wird, ich freue mich auf den Mann mit den großen Zähnen und dem Hut, der kurz vor dem Ziel die Autos aufhält. Vor lauter Vorfreude überhole ich noch ein paar Abgeschlaffte. Einer von ihnen geht. Wer geht denn auf dem letzten Kilometer? Ich finde, das dürfen nur Verletzte. Und dann bestätigt sich wieder einmal eine alte Weisheit: wenn Männer eins nicht riechen können, dann das, wenn sie von einer Frau überholt werden. Ich bin schon im Zielkanal, etwa fünf Schritte vom Ziel entfernt, da kommt der eben noch Gehende an mir vorbeigeschossen und ruft noch so etwas wie „Platz da!“. Nicht dass es mir wichtig wäre, ob ich vor oder nach ihm ins Ziel komme. Aber auf einem schönen, heldenhaften Zielfoto ist jetzt außer mir ein Karpfen zu sehen, der versucht, sich Platz zu verschaffen. Und das finde ich dann doch ein bisschen bedauerlich. Die Uhr bleibt stehen bei 1:49:13. Das ging hier auch schon mal 5 Minuten schneller, aber sei’s drum.
Zum Ausgleich machen wir nun das, was wir hier immer versuchen, aber nur selten schaffen: wir essen erst eine (halbe) Grillwurst und dann ein Stück Kuchen.
Dabei sitzen wir in der Sonne und überlegen, welche Sportart wohl in Kelkheim Hornau im nächsten Jahr erfunden wird.
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